Weltwoche Kommentar 47/24

Kommentar

Schweiz im Sturm

D

er grösste Fehler, den die Schweiz jetzt machen kann, ist eine weitere Annäherung an die EU. Ausser der SVP neigen alle Parteien dazu. Ich glaube allerdings, diese Pläne werden sich zerschlagen. Der vom Bundesrat angestrebte Rahmenvertrag 2.0 wird ziemlich sicher scheitern. Obwohl sie in Bern mächtig Druck machen. Bundespräsidentin Viola Amherd, nach Eveline Widmer-Schlumpf die schlechteste Bundesrätin, die wir je hatten, möchte das Verhandlungsmandat unbedingt bis Ende Jahr unterschreiben. Um die Sache geht es ihr nicht. Hauptsache, auf dem Dokument steht ihr Name. Egozentrik und politische Eitelkeit sind im EU-Dossier wesentliche Treiber.

Die Schweizer EU-Turbos sollten sich vor Augen halten: Die EU ist heute eine Militärallianz, ein Kriegsbündnis gegen Russland. Jede Form der institutionellen Bindung an dieses kriegerische Gebilde wird die Schweiz, die mit ihren Sanktionen ohnehin schon Kriegspartei gegen die Atommacht Russland ist, noch weiter in diesen unseligen, vom Westen durch jahrelange Untergrabung russischer Sicherheitsinteressen mitverursachten Konflikt hineinziehen. Doch nicht nur politisch, auch wirtschaftlich liegt die EU am Boden. Der vernichtende Bericht des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, sollte jeden Schweizer Politiker sofort von der Vorstellung befreien, die Schweiz auch nur einen Millimeter näher an den Schuldensumpf zu manövrieren.

Nein, gegenüber der EU ist institutionelle Abschottung angesagt, eine Brandmauer, die unser Land so lange schützt, bis sich die Union geheilt oder in dieser Form abgeschafft hat. Geht es ungebremst so weiter, was ich auch nicht glaube, denn wir Europäer sind nicht dumm, dürften weitere Länder die EU verlassen. Zu rechnen ist sogar damit, dass die Deutschen austreten, vielleicht in zehn Jahren, weil ihnen schlicht das Geld ausgeht. Das Kartell der Wirklichkeitsverweigerung, das in Brüssel den Ton angibt, ist das Sinnbild einer tiefen Führungskrise im Westen. Macron, Scholz, die sich in Wien zusammenstückelnde Koalition der Verlierer sind Regierungseliten auf Zeit. Sie dürften mittelfristig Platz machen müssen für eine neue Mitte, die weniger linksaussen steht.

In den USA übernehmen jetzt die Unternehmer, die Quereinsteiger, allen voran Donald Trump und Elon Musk. Ihr Wahlsieg ist ein Triumph über die Bürokratie, über den «Deep State», über eine verfilzte, sich seit Jahren an der Macht tummelnde Pseudoelite, eine korrupte Oligarchie, die sich mit den Folterinstrumenten der Cancel-Culture gegen die Opposition, gegen eine Mehrheit der Bevölkerung zur Wehr setzt. Trumps Erfolg ist auch Sieg der Demokratie, ein Beweis dafür, dass in den USA die Freiheit, der Bürger regiert und nicht ein dunkles, labyrinthisches Raumschiff der Obrigkeit, das wie im Science-Fiction-Film «Independence Day» als finstere Wolke drohend über den Vereinigten Staaten schwebt.

Wir Schweizer stehen am Rande eines Atomkriegs auf der Seite von Russlands Feinden.

Unfreiwillig hat der Hollywood-Kracher des deutschen Regisseurs Roland Emmerich hier die Metapher geliefert für ein Empfinden, das viele auch beim Anblick Deutschlands übermannt. Die Bundesrepublik steckt in einer heftigen Identitäts- und Orientierungskrise. Das verschärft die Instabilität und auch die Unberechenbarkeit der Europäischen Union. Ohne Rücksicht auf die europäischen Nachbarn, rechthaberisch, moraltrunken, geschichtsautistisch, bläst Oppositionsführer Friedrich Merz, möglicher nächster Kanzler, zur Ausweitung des Ukraine-Kriegs gegen russische Ziele mit hochwirksamen Fernlenkwaffen «Made in Germany». Frivol und überheblich hofft der Kriegstreiber, Wladimir Putin werde auch die jüngsten Eskalationen schlucken.

Verrechnen sich die deutschen Politiker, achtzig Jahre nach dem gescheiterten Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten, einmal mehr, steht Mitteleuropa in Flammen. Da nützt die schönste Wirtschaftsreform nichts mehr, der wirksamste Grenzschutz gegen illegale Migranten, wenn dein Land zur Kampfzone taktischer Nuklearwaffen aus Russland wird. Die deutschen Medien scheinen in der Frage von Krieg und Frieden jedes Problembewusstsein verloren zu haben. Die Grünen peitschen mit. Unter den Mainstreamparteien steht einzig der wankende und führungsschwache Kanzler Scholz gegen die fiebrigen Militaristen, die den Finger schon am Abzug haben. Hoffen wir, als Schweizer, dass er das Vertrauensvotum im Dezember übersteht.

Doch auch in Bern sind Schlafwandler und Zauberlehrlinge am Werk. Für Hochmut besteht nicht der geringste Grund. Unsere Landesregierung hat die jahrhundertealte Tradition der Neutralität ausser Kraft gesetzt, faktisch gestrichen, auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen. Dabei aber redet sie sich ständig,  rotzig, wahrnehmungsgestört ein, die Schweiz sei nach wie vor neutral. Ein Wahrnehmungsproblem hätten nur die anderen, vor allem die Russen mit ihren 6500 Atomsprengköpfen, die es anders sehen und unser Land mittlerweile als feindseligen Staat betrachten. Dieser unglaubliche, potenziell selbstzerstörerische Sündenfall ausgerechnet in kriegerischen Zeiten ist aufs Schleunigste zu korrigieren.

Doch nicht einmal die SVP, letzte Gralshüterin der schweizerischen Neutralität, erkennt die volle Brisanz. Bei der Volkspartei wirbeln mehrere Strömungen durcheinander. Die Wahlerfolge aus letzter Zeit haben, unvermeidlich, Opportunisten hochgespült, Anpasser und Gutmenschen, die es sich mit dem Mainstream nicht verderben wollen. Dann gibt es die NatoFans aus den Offizierskadern der Armee, denen wie bei Buben die Augen leuchten, wenn sie am Horizont eine F-35 aufsteigen sehen. Gegen die orthodoxe Neutralität stehen auch die alten Kalten Krieger, die Russland zwar zu Recht misstrauen wie jeder Grossmacht mit einem Raubtier im Wappen, aber geistig im Kalten Krieg steckengeblieben sind.

Als ich diese Zeilen schreibe, feuert Präsident Selenskyj in Kiew hochwirksame amerikanische Kurzstreckenraketen auf russisches Territorium. Die US-Regierung hat es erlaubt. Noch kurz vor seinem Abgang sabotiert der greise Machthaber im Weissen Haus, Joe Biden, die nachfolgende Regierung und riskiert mal noch so schnell, bevor er sich auf den Ritt zu jenem Horizont begibt, von dem es kein Zurück mehr gibt, einen dritten Weltkrieg. Diese jüngste Eskalation könnte gemäss russischer Nukleardoktrin vielleicht zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen. Das nimmt man in Washington, gut geschützt hinter zwei Ozeanen, offenbar in Kauf.

Müssen wir in Europa jetzt schon darauf hoffen, dass in diesem Umzug der Verrückten wenigstens Putin kühlen Kopf bewahrt? Wir Schweizer stehen am Rande eines Atomkriegs auf der Seite von Russlands Feinden. Sein oder Nichtsein? Die Schweiz muss, dringend, zur vollen Neutralität zurück.

R.K.

Cover: PAINTING/Alamy

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