Europas Krise, Schweizer Weg
ie Europäische Union wankt über einem Sumpf von Schulden. Die politische Marschrichtung ist alles andere als gewiss. Bei den «Europawahlen» legten die Rechten leicht zu. Die Grünen kassierten einen Dämpfer. Düstere Konjunkturaussichten trüben die Laune. Wachstum verspricht nur das allgemeine Unbehagen. Viele Europäer, darunter wir Schweizer, bekommen beim Wort «EU» ein mulmiges Gefühl.
Hierzulande verfolgt man schon lange misstrauisch, was der Politiker und Unternehmer Christoph Blocher einst eine «intellektuelle Fehlkonstruktion» nannte. In der EU seien alle für alles verantwortlich und niemand für etwas. Die gleiche Währung für unterschiedliche Volkswirtschaften, eine Migrationspolitik der offenen Grenzen zulasten der EU-Grenzstaaten: Die EU sei gutgemeint, aber untauglich in der Wirklichkeit.
Ist die EU weniger als die Summe ihrer Mitgliedstaaten? Das scheint sich im Ukraine-Krieg auch geopolitisch zu bestätigen, nicht nur wirtschaftlich. Europa wirkt in diesem Konflikt seltsam körperlos, ohne eigenen Schwerpunkt, wie ein Erfüllungsgehilfe amerikanischer Interessen. Die meisten jetzt noch amtierenden Regierungen fördern die Konfrontation gegen Russland. Auch dagegen regt sich Widerstand von unten.
In den Politzentralen der EU verbreitet sich Panik, zum Teil Verzweiflung. Das lässt sich auch daran ermessen, dass in Deutschland, dem wichtigsten EU-Land, immer mehr Massnahmen zur Disziplinierung und Bestrafung von Kritikern ergriffen werden. Anstatt die Einwände und die dahintersteckenden Sorgen und Nöte vieler Bürger ernst zu nehmen, setzt die Ampelkoalition, selber in den Seilen hängend, auf Repression.
Das wichtigste Organ der Regierung im Kampf gegen Oppositionelle ist der Verfassungsschutz. Entstanden als Schutzinstrument der Demokratie aus der Erfahrung der Weimarer Republik, droht die Behörde sich unter ihrem Chef Thomas Haldenwang zum Staat im Staate auszuwachsen, zu einer Art Wächterrat, einer modernen Inquisition, deren Werkzeuge nun schon gegen unerwünschte Meinungen greifen. Ich bin überzeugt: All diese Versuche, die Freiheit im Namen einer von den Staatsorganen geradezu gelenkten «Demokratie» zu gängeln, werden fehlschlagen. Sie sind kontraproduktiv, denn die Leute merken längst, dass etwas nicht mehr stimmt. Allzu oft ist eben dort, wo «Demokratie» draufsteht, keine Demokratie mehr drin. Die Wähler werden dies den Regierenden immer deutlicher vor Augen führen.
Als Schweizer aber sollten wir das alles genau anschauen. Es steht uns nicht zu, den EU-Staaten Ratschläge zu geben oder Befehle zu erteilen. Wir sind aber auch nicht verpflichtet, jeden Unsinn mitzumachen, nur weil ihn uns das Ausland aufdrängt. Es ist kein Geheimnis, obwohl es in Bern ungern ausgesprochen wird, dass vor allem Brüssel eine engere institutionelle Anbindung an ihr Gebilde wünscht.
Bei uns sind Freiheit, Demokratie und Nationalismus eine gelungene Verbindung eingegangen.
Wie gefährlich dies wäre, zeigt ein Blick über die Landesgrenzen. Die EU hatte immer schon Probleme mit der schweizerischen Unabhängigkeit, zuletzt vor allem in Migrations-, Steuerund Sozialfragen. Durch den Ukraine-Krieg haben sich die Gegensätze noch verschärft. Die EU tritt fordernder, gebieterischer, kriegerischer auf. Eine neutrale Schweiz wäre in einem solchen Verbund komplett undenkbar.
Brüssels Toleranz gegenüber renitenten Mitglieds- oder Anrainerstaaten lässt merklich nach. Ein neuer Befehlston zieht in den Regierungszentralen ein, verkörpert durch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, die sich berufen fühlt, auf ihren Weltreisen anderen Ländern den Tarif durchzugeben. Als Vertreterin der «Wertegemeinschaft» glaubt sie sich dazu berechtigt.
Bemerkenswert ist, wie trickreich die EU sich inzwischen über die eigenen Regeln hinwegsetzt. Macht vor Recht, lautet die Devise. Gemäss EU-Satzungen gilt bei wichtigen Entscheiden die Einstimmigkeitsregel. Ungarn blockiert aktuell ein paar Milliarden Euro Ukraine- Hilfe. Findige EU-Juristen haben einen Schleichweg entdeckt, um Ungarn auszubremsen. Manche Medien bejubeln den neuen Autokratenstil.
In vielen EU-Staaten wird die Luft für Minderheiten dünner. Das merken vor allem jene, die den Krieg in der Ukraine isolieren und beenden, nicht internationalisieren wollen. Gut möglich, dass der jüngste Wahlruck in dieser Frage etwas verändern wird. Doch auch einige der neuen Rechtsparteien wirken vertraut vollmundig, aufgeblasen, opportunistisch, machtversessen – unschweizerisch auf jeden Fall.
Die EU ist auf der Idee gebaut, den Nationalstaat, eine europäische Erfindung, abzulösen. Dieses Experiment ist vorerst gescheitert. Deshalb schlägt das Nationale jetzt so laut zurück und manchmal auch bedrohlich. Was lange unterdrückt, unter dem Deckel gehalten wird, bricht sich machtvoll Bahn. Irgendwann kommt dann wieder ein neues Gleichgewicht, doch davon ist die EU im Moment noch weit entfernt.
Wir Schweizer tun gut daran, uns von diesen Gärungsprozessen fernzuhalten. Zur Überheblichkeit haben wir keinen Grund. Wir sind einfach etwas anders durch die Geschichte gekommen, haben andere Lernerfahrungen gemacht, andere Überlebenstechniken entwickelt. An guten Beziehungen mit der EU besteht jedes Interesse. Doch das Risiko einer institutionellen Ankettung sollten wir vermeiden.
Die Schweiz ist ein nationaler, demokratischer Rechtsstaat. Anders als in Deutschland, Frankreich, Österreich oder Italien sind bei uns Freiheit, Demokratie und Nationalismus im 19. Jahrhundert eine gelungene Verbindung eingegangen. Unseren Nachbarländern war das nicht vergönnt. Wege und Sonderwege prägen. Darauf einbilden dürfen wir uns nichts. Dafür entschuldigen sollten wir uns noch weniger.
Die Welt von heute wird von mächtigen Vielvölker- Nationalstaaten bestimmt, von den Vereinigten Staaten, China, Russland oder Indien. Auf dem Pannenstreifen schleudert dagegen das «supranationale» EU-Modell. Selbst in Europa wenden sich manche Länder davon ab. In ungewissen, konfliktreichen Zeiten muss man, so gut es geht, beim Bewährten bleiben. Die Schweiz sollte ihre Unabhängigkeit verteidigen.
R.K.