Als ob ihre Seelen in der Hölle brennen
inen Frieden in Europa kann es nur mit, nicht gegen Russland geben. Das war der Irrtum an der Wurzel des Bürgenstock-Meetings. Diese Konferenz war nicht, wie jetzt trotzig nach wie vor behauptet wird, ein erster Schritt zur Lösung des Konflikts. Sie ist ein Stolperstein, ein Hindernis auf dem Weg zu erfolgreichen Verhandlungen.
Präsident Selenskyj missbrauchte die Schweiz zum Ausbau seiner Allianz der Unterstützer. Das weltweite Ansehen unseres Landes, das durch die Preisgabe der Neutralität schon schwer gelitten hat, hätte den Positionen der Ukraine mehr Legitimität verschaffen sollen. Selenskyj wurde enttäuscht. Den Schaden aber hat die Schweiz.
Europa ist krank, und unsere Politik hat sich anstecken lassen. Wir denken nicht mehr realistisch. Wir laufen Gefahr, unsere eigenen Interessen zu übersehen. Die Amerikaner treiben in Europa ihr eigenes Spiel. Sie spannen ihre alten Verbündeten für einen Krieg gegen Russland ein, den Europa nur verlieren kann.
Unsere Medien, die offiziellen Meinungsmacher und die bei den letzten Wahlen abgestraften Politiker vor allem in der EU reden uns ein, im Osten würde die Freiheit des Westens verteidigt. Russlands Präsident Putin sei auf einem irren Kriegstrip gegen die demokratische Welt, wolle die alte Sowjetunion aus ihren Gräbern holen.
Die Bewirtschaftung eingeschliffener Feindbilder funktioniert. Das geht so weit, dass sie in der EU schon russische Journalisten auf die Sanktionsliste und russische Medienportale auf den Index setzen. Das in der Tat ist alter Sowjetstil, die Kriminalisierung unerwünschter Meinungen, diesmal allerdings bei uns.
Zum Glück macht da die Schweiz nicht mit. Doch auch sie hat alle Sanktionen der EU gegen die Russen übernommen. Die vielbesungene Unabhängigkeit liegt in Scherben, und noch immer rennen sie in Bern herum, darunter noble Zeitungen, um unser Land institutionell an eine EU anzudocken, die die Meinungsfreiheit mit Füssen tritt.
Unsere politisch korrekten Demokratiekrieger, die aus sicherer Distanz die Ukrainer für «westliche Werte» sterben lassen, sehen den Konflikt in biblischen Kategorien von Gut gegen Böse. Dem Teufel im Kreml darf kein Millimeter Boden gewährt werden. Rhetorisch legen sie sich ins Zeug, als ob sonst ihre Seelen in der Hölle brennen würden.
Vielleicht wäre es ratsam, das Debakel im Osten nüchtern zu betrachten. Die Ukraine liegt an der alten Bruchstelle geopolitischer Einflusssphären, Kampfzone der Grossmächte seit Jahrhunderten. Schon früher prallten dort die Interessen aufeinander. Das hat mit der Bibel nichts zu tun, aber viel mit Macht und Politik.
Wir haben inzwischen begriffen, dass man bei uns nur Putin als Alleinschuldigen nennen darf. Die Formel «völkerrechtswidriger Angriffskrieg» ist zur stehenden Wendung geworden, von der erwartet wird, dass sie jeder, der an einer Diskussion teilnimmt, roboterhaft wiederholt. So, als ob man sich auf Vorrat bekennen, rechtfertigen müsste.
Präsident Selenskyj missbrauchte die Schweiz zum Ausbau seiner Allianz der Unterstützer.
Das allein zeigt schon, dass etwas nicht mehr stimmt. Denn natürlich kann man diesen Krieg, wie jeden Krieg, auch von einer anderen Seite anschauen. Das aber getrauen sich nur wenige, sonst geraten sie noch unter Verdacht, «Putin-Versteher» oder, schlimmer, «Putin-Bewunderer» zu sein. Der Konformitätsdruck ist längst ungesund.
In der Ukraine tobt ein Fernduell zwischen Russland und den USA. Angefangen hat es lange vor dem russischen Einmarsch in den Donbass vor zwei Jahren. Kriege haben viele Väter und Ursachen. «Zeitenwende» ist das neue Gaunerwort. Wer so redet, möchte das Nachdenken verbieten, Diskussionen verhindern.
Gut und Böse gibt es nicht. Die Amerikaner haben in Europa ihre Nato immer weiter nach Osten geschoben. Sie können dafür respektable Gründe geltend machen. Viele ehemalige Satellitenstaaten der Sowjetunion waren überglücklich, der russischen Knute zu entkommen. Hätten ihnen die USA die kalte Schulter zeigen sollen?
Handkehrum missachteten sie dadurch, vielleicht in bester Absicht, den alten Grundsatz, sich aus den Einflusssphären anderer Grossmächte herauszuhalten, so, wie sie es selber mit ihrer Monroe-Doktrin inzwischen weltweit zu gestalten pflegen. Die Kollision mit Russland wurde unausweichlich.
Und kann man es den Russen verargen, dass sie den US-Vorstoss mit Stützpunkten und Raketenbasen an die eigenen Grenzen als Bedrohung empfinden? In der Ukraine entgleiste die Nato-Expansion. Es gab einen Putsch, vom Westen unterstützt. Acht Jahre lang nahm Kiew die abtrünnigen Gebiete im Osten unter schweren Artilleriebeschuss.
Hätten die Russen einfach zusehen sollen, wie vor ihren Augen Tausende von russischsprachigen Ukrainern abgeschlachtet werden? Putin befahl den Einmarsch im Februar 2022, um, wie er sagte, die «Schwesterrepubliken» zu befreien. Die Amerikaner haben schon fadenscheinigere Rechtfertigungen benutzt, um ihre Kriege zu begründen.
Wer Frieden machen will, kann auch die Bibel lesen, aber richtig. Das Denken in Feindbildern und Schuldzuweisungen schürt nur Hass und zerstört den Boden für Verständigung. «Appeasement» ist der neue Kampfbegriff. Ersetzen wir ihn durch die in unseren Ohren freundlicher klingende Vokabel «Kompromiss».
Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der nur die Amerikaner bestimmen. Eine Mehrheit der Weltbevölkerung hat die Bevormundung aus dem Westen satt. Die globale Alleinherrschaft der USA geht nach dreissig Jahren zur Neige. Jetzt gilt es, wie im 19. Jahrhundert nach dem Ende Napoleons, einen «multipolaren» Frieden
zu bauen.
Doch Frieden gibt es nur, wenn alle Interessen berücksichtigt werden. Der Versuch, einen Weltblock, eine globale Brandmauer gegen China und Russland zu betonieren, ist Ausdruck eines veralteten, hegemonialen Denkens. Davon sollte sich die Schweiz fernhalten. Wir müssen zur wahren Neutralität, zur Weltoffenheit zurück.
R.K.