Podiumsdiskussion zur Begrenzungsinitiative in Spiez

allgemein

Ein verbaler Schlagabtausch in Spiez

Von Michael Schinnerling, publiziert am 10. September 2020, Simmental Zeitung

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ie regionalen Parteien luden am Mittwoch, 2. September, zum überparteilichen Podium. Die Klinge kreuzten zum Thema «Begrenzungsinitiative » die Nationalräte Roger Köppel (Zürich, SVP) und Jürg Grossen (Frutigen, GLP), der Präsident/ Geschäftsführer von Travail. Suisse Adrian Wüthrich (Langenthal, SP) sowie der Präsident der FDP, die Liberalen Berner Oberland Mathias Siegenthaler (Wimmis).

«Wir geben unseren Hausschlüssel an die EU ab, wenn wir die Begrenzungsinitiative nicht annehmen. Wer würde dies zu Hause freiwillig machen, meine Damen und Herren», fragte NR Roger Köppel. «Wir brauchen Fachkräfte in der Schweiz und ein gutes Verhältnis mit der EU», argumentierte hingegen NR Jürg Grossen. «Die Wirtschaft wird, bei einer Annahme, darunter leiden. So zum Beispiel gäbe es in Zukunft Probleme und technische Hindernisse », fand Mathias Siegenthaler. Dieser sprang kurzfristig für den verunfallten Parteikollegen Ruedi Noser ein und erwies sich als eher pragmatisch im Umgang mit den Themen. Wüthrich wiederum verwies auf die Aktivitäten der Gewerkschaft, indem er sagte: «Wir haben ausreichende Schutzmassnahmen für die älteren Arbeitnehmer. »

Unterschiedlicher konnten die Meinungen bei der Diskussion nicht sein. Auf der einen Seite die drei Gegner der Initiative Siegenthaler, Grossen und Wüthrich, auf der anderen Seite der sprachlich dominierende Weltwoche- Redaktor Köppel. Dieser bekam am meisten Zwischenapplaus und Moderator Daniel Schifferli hatte manchmal etwas Mühe, Köppel zu bremsen. Über das Ganze gesehen hatte Schifferli allerdings eine gute Art, die Diskussionsteilnehmer zu führen. Am Schluss werden die Argumente zu den einzelnen Diskussionspunkten zusammengefasst.

Einigkeit bei Corona-Massnahmen

Ein Votant aus dem Publikum wollte zum Schluss die Meinung zu Corona- Massnahmen in der Schweiz wissen. Alle vier waren sich einig: Es muss wieder Normalität hergestellt werden. Und eine Lockerung sei zwingend notwendig. Denn beim Bund sei man etwas planlos und das Parlament bzw. die Kommissionen müssten vom Bundesrat mehr in die Entscheidungen eingebunden werden. Jeder der vier Podiumsteilnehmer wollte sich dafür in Bern einbringen. «Ich werde euch an diese Worte erinnern», so der Votant.

Worum geht es bei der Begrenzungsinitiative genau?

Die Schweiz und die Europäische Union (EU) haben im 2000 sieben Abkommen geschlossen, die sogenannten «Bilateralen I». Diese regeln, neben der Personenfreizügigkeit, den Abbau technischer Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, den Landverkehr, den Luftverkehr und die Forschungszusammenarbeit. In vielen Teilen sind diese Abkommen sicher auch für die Schweiz ein Vorteil. Die SVP ist jedoch der Auffassung, dass gegenüber der EU die grossen Probleme, die das Personenfreizügigkeitsabkommen bringt, anzusprechen sind. Verhandeln müsse erlaubt sein, umso mehr, als die EU an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und insbesondere am Landverkehrsabkommen und am Agrarhandel grosses Interesse hat.

Die Gegner ihrerseits befürchten, dass die EU im Moment nicht mit sich verhandeln lasse, und die Gefahr besteht, dass bei der Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommen gemäss Abkommenswortlaut auch alle anderen sechs Abkommen ausser Kraft treten (Guillotine-Klausel).

Zusammenfassung der Podiumsdiskussion

Soll die Personenfreizügigkeit gekündigt werden?

Roger Köppel: Die Begrenzungsinitiative gibt dem Bundesrat ein Jahr Zeit, die Personenfreizügigkeit auf der Grundlage der beiden Paragrafen 14 und 18 neu auszuhandeln, sodass die Schweiz sie eigenständig regeln kann. Falls dies nicht gelingt, wird die Personenfreizügigkeit gekündigt.

Jürg Grossen: Nein. Die bilateralen Verträge inklusive der Personenfreizügigkeit sind ein Erfolgsmodell. Der volle Zugang zum europäischen Markt sichert unseren Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit, sie ist aber auch unseren Bildungs-, Forschungsund Innovationsstandort zentral.

Mathias Siegenthaler: Nein. Durch die Kündigung der Personenfreizügigkeit verlieren Schweizerinnen und Schweizer das Privileg, unbürokratisch eine Arbeit in den Vertragsstaaten aufzunehmen und sich dort niederzulassen. Für Schweizer Unternehmen wird der Zugang zu qualifizierten Fachkräften aus dem EU-Ausland durch bürokratische Hürden (Kontingente) erschwert.

Adrian Wüthrich: Nein. Deshalb muss die Begrenzungsinitiative abgelehnt werden. Bei einem Ja müsste der Bundesrat innert einem Jahr mit der EU verhandeln. Wir wissen schon heute, dass die EU ihren Grundsatz der Personenfreizügigkeit nicht infrage stellt. Bei einem Wegfall könnten wir aus der Schweiz auch nicht mehr so einfach wie heute in ein EU-Land einreisen. Touristinnen und Touristen würden bei Europa-Reisen die Schweiz eher meiden, was gerade im Berner Oberland weitere Schwierigkeiten bringt. Ohne Personenfreizügigkeit wäre auch der Lohnschutz weg, da die flankierenden Massnahmen damit verknüpft sind. Schwarzarbeit und Lohndumping wären unkontrolliert zulasten der Arbeitnehmenden und ihrer Familie an der Tagesordnung. Gehen wir keine unkontrollierbaren Experimente ein und lehnen die Begrenzungsinitiative ab.

Wie soll sich die Bevölkerung in der Schweiz entwickeln?

Roger Köppel: Niemand hat etwas gegen eine geregelte, massvolle Zuwanderung. Es geht aber nicht, dass wie in den letzten dreizehn Jahren netto eine Million Menschen in die Schweiz einwanderten.

Jürg Grossen: Unsere Bevölkerung hat ein enormes Potential, das wir noch viel besser nutzen wollen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns auf den Arbeitsmarkt der Zukunft ausrichten. Das heisst, dass wir die Anreize verbessern müssen, damit möglichst viele Leute arbeiten. Dazu braucht es gezielte Reformen beim Steuersystem, bei Bildung und Forschung und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Mathias Siegenthaler: Die Zuwanderung und damit die Bevölkerungsentwicklung ist abhängig von der Konjunktur. Wir steuern die Zuwanderung also schon heute selbst. Bei EU-Angehörigen wird sie via Arbeitsmarkt gesteuert. Es darf nur einwandern, wer eine Arbeit und einen Arbeitsvertrag hat oder über genügend finanzielle Mittel verfügt.

Adrian Wüthrich: Die Altersentwicklung zeigt, dass die Bevölkerung der Schweiz älter wird. Es werden bereits ab nächstem Jahr mehr Leute pensioniert als neu zu arbeiten beginnen. Die Anzahl Kinder pro Paar ist rückläufig. Menschen aus Drittstaaten – ausserhalb der EU – können nicht so einfach einreisen. Das soll weiterhin so sein. Eine genaue Zahl ist schwierig vorherzusehen. Eine Beschränkung der Bevölkerung bedeutet in unserem System ein Abwürgen der wirtschaftlichen Tätigkeit und damit weniger Wohlstand.

Brauchen wir Arbeitskräfte aus den EU-Ländern?

Roger Köppel: Ja, und jene die wir benötigen, haben wir noch immer bekommen und werden wir auch weiterhin bekommen. Die Schweiz kann aber nicht allen EU-Bürgern offenstehen.

Jürg Grossen: Die Schweiz leidet unter einem grossen Fachkräftemangel. Deshalb sind wir auf gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Gleichzeitig müssen wir aber auch das Potential im Inland besser nützen.

Mathias Siegenthaler: Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte aus dem EU-Raum. 74 Prozent der jüngst aus der EU in die Schweiz eingewanderte Personen arbeiten in Berufsgruppen mit hohen oder sehr hohen Qualifikationsanforderungen. Durch die Einstellung einer höher qualifizierten Arbeitskraft entstehen nachgelagert bis zu fünf weitere Jobs. Davon profitieren wir alle! Dabei gingen im Schnitt weder die Beschäftigung von Einheimischen zurück, noch sanken deren Löhne. Es ist genau das Gegenteil geschehen: Die Erwerbsquote und die Löhne sind seit der Einführung der Personenfreizügigkeit gestiegen.

Adrian Wüthrich: Die Schweizer Wirtschaft benötigt mehr Leute, als wir in der Schweiz zur Verfügung haben. Wir sind eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt und benötigen sehr gut qualifizierte Leute, weil wir Spitzenprodukte und Spitzentechnologien schaffen.

Wie ist der Zusammenhang der Begrenzungsinitiative zu den anderen bilateralen Verträgen?

Roger Köppel: Die Begrenzungsinitiative will keine Personenfreizügigkeit mehr. Diese ist aber mit den übrigen sechs Verträgen der Bilateralen I verbunden. Im unwahrscheinlichsten Fall wird die EU bei Wegfall der Personenfreizügigkeit auch die übrigen sechs Verträge kündigen. Angesichts der Bedeutung des Transitvertrags für die EU ist dies aber sehr unwahrscheinlich.

Jürg Grossen: Eine Annahme der Kündigungsinitiative würde wegen der «Guillotine-Klausel» zur Kündigung wichtiger bilaterale Verträge führen. Diese Rechtsunsicherheit würde unseren Unternehmen, der Forschung und der ganzen Gesellschaft schaden.

Mathias Siegenthaler: Die Begrenzungsinitiative fordert die Kündigung der Personenfreizügigkeit. Wegen der sogenannten Guillotine-Klausel wird dadurch automatisch das gesamte Vertragspaket der Bilateralen I gekündigt. Die Bilateralen I regeln die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei Handel, Bildung und Forschung, Landwirtschaft, Landverkehr oder bei der Luftfahrt. Sie sind speziell auf die Bedürfnisse der Schweiz zugeschnitten, damit unser Land auch ohne EUBeitritt vom europäischen Binnenmarkt profitieren kann. Die Bilateralen sind deshalb ein wichtiges Fundament unseres wirtschaftlichen Erfolgs und damit des Einkommens jedes einzelnen Schweizers und jeder einzelnen Schweizerin.

Adrian Wüthrich: Kündigt die Schweiz die Personenfreizügigkeit, werden die weiteren Verträge der Bilateralen I wegfallen. Insgesamt sind die Bilateralen I zum Vorteil für die Schweiz. Wegfallen würden auch die flankierenden Massnahmen, dank welchen in der Schweiz der Schutz der Löhne und der Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden. Der Druck auf die Löhne würde grösser, was wir alle spüren würden.

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