Weltwoche Kommentar 39/20

Kommentar

Erosion des Rechtsstaats

I

n der Schweiz wankt, wackelt der Rechtsstaat. Die Unterlage erodiert. Das Treibsandgefühl ist da. Gesetze gelten nur noch wahlweise und nicht für alle gleich. Verfassungsartikel sind Manövriermasse in kreativen Händen. Die Eigentumsgarantie ist zum Teil ausser Kraft. Was das Volk und die Kantone entscheiden, kann von Richtern und Politikern jederzeit im Namen übergeordneter Ideale, höherer Zweckmässigkeiten oder auf Druck der EU oder der Strasse umgestossen werden. Wer sich gegen die Anmassungen wehrt, sieht sich in den Medien als schurkischer Missachter der Gewaltentrennung angeprangert.

Es passt ins Bild rechtsstaatlicher Verlotterung, wie der links-grüne Berner Gemeinderat diese Woche eine grosse illegale Klima-Demo vor dem Bundeshaus komplizenhaft gewähren liess. Die Manifestanten installierten sich unbehelligt mit Heuballen, riesigen Überdachungen und Gratisstrom der Stadt Bern. Passanten mussten weichen. Zeitweise waren die Strassen von den Klima-Extremisten blockiert. Auf Befehl von oben durfte die Polizei das widerrechtlich besetzte Gelände nicht räumen. Den empörten Bundesparlamentariern teilte der Berner Gemeinderat mit, er sei mit den Demonstranten «im Gespräch».

E

s überrascht nicht, dass die gleiche linke Stadtregierung unter dem grünen Baron Alec von Graffenried der SVP noch ausdrücklich verboten hatte, eine Kundgebung für die Begrenzungsinitiative auf dem Bundesplatz durchzuführen. Auch Parkbussen und Steuerrechnungen werden weiterhin verteilt. Offensichtlich ist in der Stadt Bern heute der Dumme, wer sich ans Recht und an die Anordnungen der Behörden hält. Als die SVP einen Vorstoss zur sofortigen Räumung des Bundesplatzes machte, stimmten die SP, die Grünen und die immer röter werdenden Grünliberalen dagegen. Für die Linke gilt der Rechtsstaat nur noch unter dem Vorbehalt der eigenen Meinung. Die persönliche Moral steht über dem Recht.

Gesetze sind nichts, die Gesinnung ist alles. Der politische Moralismus ist auf dem Vormarsch in der Schweiz. Das ist nicht nur ein Problem der Linken. Zu Beginn des Jahres brummte SVP-Bundesrat Guy Parmelin, aufgeschreckt durch ein paar Medienberichte, der in Zug sitzenden schwedischen Crypto AG ein Exportverbot auf. Die Firma ging bankrott, ohne dass der schwache Wirtschaftsminister die Vorwürfe rechtlich sauber abgeklärt hätte. Mit seinem Todesurteil beugte sich der SVPler dem Druck. Die FDP-Justizministerin machte mit; Moral vor Recht auch hier.

Zu beobachten ist der Triumph der Gesinnung über die Demokratie: Dazu gehören Bundesrichter, die sich im Hochmut ihres Amtes zu Gesetzgebern aufschwingen und Volksentscheide wegen angeblich übergeordneten internationalen Rechts ausser Kraft setzen. Das Parlament hat soeben einen Corona- Artikel abgesegnet, der den Hauseigentümern verbietet, auf Geschäftsliegenschaften Miete einzuziehen. Die ganz legale Enteignung der Vermieter ist ein Herzenswunsch von Links- Grün, aber sie kam mit vielen bürgerlichen Stimmen durch. Der Angriff aufs Eigentum der Liegenschaftsbesitzer ist für die Schweiz ein bis vor kurzem undenkbarer Sündenfall.

A

lle totalitären Bewegungen von Lenin bis Hitler haben ihren Krieg gegen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat über die Beseitigung des Privateigentums entfesselt. Befördert wird die Aushöhlung durch supranationale Institutionen wie die Europäische Union. Viele Linke, Grüne und Liberale sind der Meinung, die Nationalstaaten sollten möglichst viel Verantwortung und Souveränität an internationale Organisationen übertragen. Diese Einrichtungen neigen aber unweigerlich dazu, die Herrschaft des Gesetzes durch die Herrschaft mächtiger Lobby- und Einflussgruppen zu ersetzen, durch die Macht der Funktionäre, durch die Macht der Moral oder die Macht der Erpressung, wie die Schweiz etwa bei der Börsenfrage oder bei den Universitäten mit der EU erleben musste. Die wichtigste Aufgabe der Politik besteht heute darin, den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat gegen die Moralisten und die Internationalisten zu verteidigen.

R.K.

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