Weltwoche Kommentar 16/22

Kommentar

Bravo, Philipp Hildebrand

P

hilipp Hildebrand, bis 2012 Präsident der Schweizerischen Nationalbank, dortselbst über Interessenkonflikte im Zusammenhang mit privaten Währungskäufen als oberster Währungshüter gestrauchelt, wiederauferstanden als Vizepräsident des weltweit grössten Vermögensverwalters Blackrock, nach wie vor angesehen und eine wichtige Stimme an der Nahtstelle von Politik und Wirtschaft, ruft der Schweiz mahnende Worte zu.

In der Handelszeitung beurteilt der Bankier den Ukraine-Krieg als beunruhigende Gefahr für die globale Wirtschaft. Die Schweiz müsse sich sehr gut überlegen, wie sie sich neutralitätspolitisch positioniere. Eine militärisch machtlose EU habe massiv an Souveränität verloren und sich beim Ukraine-Krieg einfach an die USA angekoppelt.

Zur Schweiz sagt Hildebrand: «Die Neutralität wurde in der Tat sehr rasch unterminiert, und dies ohne Verfassungsänderung und ohne eindeutige rechtliche Grundlage. Ich frage mich auch, was das für den Finanzplatz bedeutet, wenn wir plötzlich nicht mehr als neutraler Standort gesehen werden. Oder für die Diplomatie, wenn man gute Dienste offerieren könnte und möchte, aber gleichzeitig nicht mehr in einer wirklich neutralen Situation ist und damit auch gar nicht mehr angefragt wird.»

Philipp Hildebrand macht sich Sorgen über die hierzulande einreissende und sich in alles hineinfressende «rechtliche Willkür». Wer entscheidet, welche Konten geschlossen werden, welche Firmen faktisch vernichtet werden, weil sie ohne Bankzugang die Löhne nicht mehr bezahlen können? Wer entscheidet, wer einem im Westen in Ungnade gefallenen Politiker wie Putin nahesteht? Moral vor Recht, Willkür auch hier.

Hildebrand wäre nicht erstaunt über eine «grosse Besorgnis» von Kunden, die sich jahrelang auf die Kernwerte des Schweizer Finanzplatzes verlassen hätten: «Beständigkeit, Rechtssicherheit und Langfristigkeit». Die Aussagen des früheren Nationalbank-Chefs decken sich mit Befunden, die Gespräche mit ausländischen Diplomaten in Bern vor Ostern ergeben haben. Die Schweiz ist im Begriff, ihr über Jahrhunderte aufgehäuftes Vertrauenskapital zu verspielen.

Noch ist es nicht zu spät. Der Bundesrat kann zur Neutralität zurück, er muss zur Neutralität zurück.

Die Politik will es nicht zur Kenntnis nehmen. Der Bundesrat redet sich ein, die Neutralität sei nach wie vor intakt. Unter den Parteien ist nur die SVP bereit, an der integralen Neutralität festzuhalten. FDP und Mitte stellen unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs bereits eine engere Nato-Anbindung in den Raum. Sie missachten den staatspolitischen Grundsatz, dass man in aufgewühlten Zeiten niemals grundlegende Weichenstellungen vornehmen sollte.

Die Klartext-Aussagen des vorsichtigen Philipp Hildebrand machen deutlich, dass sich unter führenden Schweizern Unbehagen über den aussenpolitischen Kurs der Regierung verbreitet. Hildebrand steht nicht allein, aber viele ziehen es vor, in Deckung zu bleiben. Das liegt auch an den Medien, die mehrheitlich dem Moralismus frönen. Es wird erwartet, dass man Empörung und Betroffenheit zeigt. Die richtige Gesinnung scheint wichtiger als das richtige Handeln.

Noch ist es nicht zu spät. Der Bundesrat kann zur Neutralität zurück, er muss zur Neutralität zurück. Die Dringlichkeit nimmt zu. In der Ukraine hat Putin eine Grossoffensive lanciert, Ausgang ungewiss. In der EU steigt das Kriegsfieber stündlich. Deutschland spielt die Schlüsselrolle. Die Regierung Scholz steht unter Druck, schwere Waffen an die Ukrainer zu liefern. Knickt sie ein, was zu befürchten ist, brächte dies eine Eskalation des Kriegs von ungeahntem Ausmass. Die Journalisten und die Intellektuellen, die meisten von ihnen, ohne je ein Gewehr in der Hand gehabt zu haben, haben Blut in den Augen. Aus der gesicherten Deckung hinter ihren Bildschirmen trommeln sie zum Angriff gegen Putin, den sie als Ungeheuer malen, schlimmer noch, als Hitler, Stalin und Dschingis Khan zusammen. So muss es sich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs angefühlt haben, als die Armeen Europas unter dem Jubel kriegslüsterner, zivilisationsmüder Literaten in die «Blutmühlen» eines Weltgemetzels abmarschierten.

Jetzt geht es um die Sicherheit der Schweiz. Die Gefahr eines grossen Krieges steigt. Die Stimmung ist fiebrig, vor allem in der Politik. Durch die Übernahme der EU-Sanktionen machte der Bundesrat die Schweiz zur Partei im Wirtschaftskrieg. Spitzt sich die Lage weiter zu, droht unser Land auch militärisch in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Eine Rückkehr zur strikten, bewaffneten Neutralität ist das Gebot der Stunde.

Hat der Bundesrat die Kraft? Bundespräsident Cassis schüttelt viele Hände – ehrlich bemüht, seinen Neutralitätsbruch in einem Ozean des Lächelns zu versenken. Dabei wäre eine wahrhaft neutrale Schweiz eine Hoffnung für den Frieden. Statt Waffenlieferungen bräuchte es jetzt dringend einen Waffenstillstand, nur schon deshalb, um die Gemüter abzukühlen. Die Zeichen aber stehen auf Krieg. Umso wichtiger und mutiger sind die Aussagen unseres früheren Notenbank- Präsidenten.

Bravo, Philipp Hildebrand!

R.K.

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen