Doktrin des Unfriedens
Die Schweiz in der neuen Weltunordnung rivalisierender Staaten und Mächte.
eit über drei Jahren tobt der Ukraine-Krieg. Noch immer polarisiert der russische Einmarsch gewaltig. Die auch in der Schweiz vorherrschende Meinung ist, dass die Russen mit ihrem Präsidenten Putin das alte Herrschaftsgebiet der Sowjetunion wieder hochziehen wollen. Der Überfall auf die Ukraine sei der erste Schachzug eines grossangelegten Eroberungsangriffs, dem auf kurz oder lang, wenn wir nicht aufpassen, auch andere Länder im Osten Europas zum Opfer fallen würden.
Das ist die Sicht, die uns Tag für Tag, Woche für Woche in den Medien, den Talkshows und öffentlichrechtlichen Abendnachrichten nahezu unwidersprochen entgegenknallt. Wir haben hier schon oft geschrieben, dass das Problem dieser Betrachtung unter anderem und vor allem darin liegt, dass sie auffällig intolerant und diskussionslos als einzige vertretbare Ansicht ausgegeben wird. Auseinandersetzungen finden nicht statt. Die Analysen aber wären glaubwürdiger, gingen ihnen echte Debatten voraus.
Rückfall in den Kalten Krieg
Meine persönliche Meinung, sie mag falsch sein, ist eine andere als die offizielle. Ich sehe den Ukraine-Krieg als Symptom und Begleiterscheinung eines geopolitischen Umbruchs, als Reaktion Russlands auf die von den USA vorangetriebene und in der zwischen West und Ost zerrissenen Ukraine übrigens stets umstrittenen Einverleibung dieses ehemaligen Grenzgebiets des kommunistischen Imperiums in den Machtbereich der Nato. Dagegen lehnt sich Russland auf, aus der strategischen Defensive.
Der Ukraine-Krieg wird bei uns mehr oder weniger alternativlos in den Mustern des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs gesehen. In dieser Optik hat es der freiheitliche Westen mit einer bösartigen Diktatur zu tun, mit der sich jede Verständigung verbietet. Die unterschwellige bis ausdrückliche Gleichsetzung von Putin und Hitler soll dieser Lesart Dringlichkeit verleihen. Sie liegt unter anderem der Strategie der EU zugrunde, Russland auf keinen Fall durch Verhandlungen entgegenzukommen. So hat die russische Invasion auch die Denkfiguren des Kalten Kriegs reaktiviert, die vor über dreissig Jahren mit dem Fall der Berliner Mauer eigentlich überwundene Spaltung des Planeten in den freien Westen und den autoritären, diktatorischen Osten. Diese Deutung hat den Vorteil, dass sie dem Westen die moralische Absolution erteilt, die Rechtfertigung, während der Osten wie vor dem Mauerfall als Inbild des Minderwertigen und Bösen gilt. Weitere Diskussionen erübrigen sich.
Historisch gesehen ist daran nichts Neues. Schon seit Jahrhunderten betrachtet sich der Westen, das christliche Abendland, mit kurzen Unterbrüchen als überlegene und moralisch höherwertige Zivilisation, als Hort und Gral von Fortschritt, Recht und Freiheit, als «Wertegemeinschaft». Seit der Eskalation des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 tritt diese Selbsteinschätzung ungeschminkter hervor, gebieterischer und angereichert durch den Aufruf, diese Werte offensiver und notfalls militärisch zu vertreten.
Interessant ist, dass das westliche und vor allem das europäische Aufbäumen gegen die angeblichen Despotien des Ostens, zu denen auch China gezählt wird, zu einer Zeit stattfindet, da der Westen eine Periode historischer, nie dagewesener Schwäche durchmacht. Weder die wirtschaftlich und politisch auf dem Pannenstreifen manövrierenden Europäer noch die Amerikaner sind die alleinigen Herren der Welt. Die kurze Blüte der US-Dominanz nach dem Kalten Krieg geht wohl unwiderruflich zu Ende.
Tatsache ist, dass andere grosse Mächte aufgeschlossen und die früheren Platzhirsche zum Teil auch schon überholt haben. Natürlich sind die USA nach wie vor stark, ihre Wirtschaft, vor allem im Technologiebereich, ist führend, und was die Bezauberungskraft des Marketings angeht, die soft power unter anderem mit Hollywood, stehen die Amerikaner einsam vor allen anderen. Mit Trump haben sie einen archetypischen Verkäufer, einen mitunter genialen Schlangenölverkäufer an der Spitze ihres Staates.

Amerikas Konkurrenten holen auf
Doch selbst die Amerikaner sind nicht mehr mächtig genug, von der alten Kolonialmacht Europa gar nicht zu reden, den anderen Staaten den Tarif durchzugeben. China ist wirtschaftlich auf der Überholspur. Russland hat sich vom Kollaps der Sowjetunion erholt. Der Subkontinent Indien rückt mit Siebenmeilenstiefeln auf, und selbst die alten Elendszonen Afrikas und Südamerikas sind heute zunehmend eigenständige, aufstrebende Faktoren einer «multipolarer» werdenden Welt.
Ich gehöre nicht zu denen, die den Erfolg der Brics-Staaten überhöhen, aber wir müssen die Entstehung dieses Verbunds als Indiz für die geschilderte Entwicklung sehen. Die heutige Welt ist polyzentrisch geworden. Immer mehr und vor allem die grossen Staaten kommen in die Lage, ihre Politik nach den eigenen Interessen auszurichten. Nach dem Kalten Krieg gaben die USA den Ton an. Die anderen hatten sich wohl oder übel zu fügen. Das ist jetzt vorbei. Man sieht es auch in der Ukraine.
Die Menschen, die Staaten sind zur Zusammenarbeit verdammt
Was ich hier aus meiner Sicht darlege, ist keine moralische Rechtfertigung der russischen, der chinesischen oder der amerikanischen Aussenpolitik. Es ist nur der Versuch, die Dinge sachlich zu beschreiben. Aus freiheitlicher Sicht ist es von Vorteil, wenn in der Geopolitik wieder mehr Auswahl und Vielfalt herrschen, vor allem für einen Kleinstaat wie die Schweiz. Aber eine Welt der Machtvielfalt ist auch eine Welt der Rivalitäten und Konflikte, eine gefährliche Welt des Misstrauens und der Instabilität.
Mit einer Doktrin des Unfriedens, der Konfrontation und der moralischen Herabsetzung anderer Staaten und Mächte, in denen wir eine Bedrohung unserer Interessen sehen, kommen wir unter rivalisierenden Staaten, von denen keiner stark genug ist, den anderen seinen Willen aufzuzwingen, nicht mehr weiter. Diese sich abzeichnende neue Weltordnung kann nicht mehr richtig und produktiv erfasst werden mit den Begriffen und Schablonen des Kalten Kriegs und des Zweiten Weltkriegs.
Schweizer Irrweg
Die westliche Perspektive, die im Gefolge des Ukraine-Kriegs auch in der Schweiz gepflegt wird, geht davon aus, dass wir «die andere Seite», den Osten bis Peking, mindestens in Schach halten, am besten: politisch, wirtschaftlich und militärisch besiegen sollen. So argumentieren Schweizer Medien wie die NZZ, deren Sicht Widerhall findet in der Schweizer Politik. Daraus leiten sich dann konkrete Forderungen ab: Annäherung an Nato und EU, Einschränkung von Neutralität und Unabhängigkeit.
Ich halte diese Politik für falsch. Sie ist ein Irrweg, weil sie auf einer falschen, überholten Analyse der Gegenwart beruht, auf einem geistigen Rückfall in die Konflikte und ideologischen Auseinandersetzungen des 20.Jahrhunderts. Putin ist eben kein neuer Hitler, und Russland schickt sich anders als früher die Deutschen oder die Franzosen unter Napoleon nicht an, die Weltherrschaft an sich zu reissen. Russland handelt eher wie ein grossnationaler Akteur im Europa des 18. und 19.Jahrhunderts.
Rückkehr der Diplomatie
Akzeptiert man diese Annahme, ergibt sich daraus eine ganz andere Aussenpolitik als jene, die unsere Medien und unsere Politiker in Europa und in der Schweiz empfehlen. Mein Eindruck ist, dass der neue US-Präsident Trump die Wirklichkeit dieser «multipolaren» Welt instinktiv und auch intellektuell richtiger erfasst hat als die meisten seiner Kritiker. Ich lese das unter anderem daran ab, dass Trump eine robuste, auch auf militärischer Stärke beruhende Interessenpolitik mit Diplomatie verbindet.
Nicht die weltweite Durchsetzung der eigenen Werte, der politischen und moralischen Regeln, wie sie die westliche Aussenpolitik unter amerikanischer Hegemonie seit dem Zweiten Weltkrieg bis Obama prägte, taugt heute zur Leitschnur. In einer Welt ähnlich mächtiger Rivalen ist aufgeklärte nationale Interessenpolitik gefragt, Beweglichkeit, Verteilung der Risiken, Pragmatismus, Diplomatie und die Bereitschaft, sich auch mit Staaten zu verständigen, deren Werte und Regierungsformen man nicht teilt.
Aus der Zeit gefallen ist umgekehrt die Rhetorik der moralischen Überlegenheit, das Sendungsbewusstsein des alten Westens, die Arroganz der abgehalfterten Kolonialmächte, die glauben, vom lieben Gott persönlich den Auftrag zur Bevormundung und Erziehung aller anderen bekommen zu haben. Nicht selten beschleicht einen der Eindruck, gerade im Konflikt mit Russland seien auf Seiten des Westens längst eingesargte antislawische Ressentiments aus ihrem Grab gestiegen.
Die Menschen, die Staaten sind zur Zusammenarbeit verdammt. Wenn wir dem russischen Dichter Tolstoi recht geben, bestimmen nicht die Politiker den Gang der Politik, zum Glück, sondern die Völker. Und da sehen wir in der Tat wenig, eigentlich gar kein Interesse an neuen Kreuzzügen und ideologisch befeuerten Todfeindschaften. Die wirtschaftliche und digitale Vernetzung ist so eng wie nie. Die Leute wissen: Wohlstand gibt es nur, wenn alle das Beste aus ihren Stärken machen und zu Markte tragen können.
Darum ist die EU, sind Deutschland und Frankreich, ist aber auch das schlingernde Grossbritannien heute auf dem Holzweg und mit ihnen die Schweiz, wenn sie glaubt, sich unter die Fuchtel des Brüsseler Konstrukts begeben zu müssen, und sich infolgedessen die Doktrin des Unfriedens zu eigen macht, die Konfrontationspolitik eingebildeter Überlegenheit, mit der sich ausgerechnet die Europäische Union nicht nur mit Russland und China, sondern gelegentlich auch mit den USA unter Trump anlegt.
Überlebenswunder
Die Schweiz wäre wie kaum ein anderes Land beneidenswert aufgestellt für diese neue Weltunordnung der polyzentrischen Vielfalt. Als neutraler, unabhängiger und weltoffener Staat ist sie eine der erfolgreichsten Selbsthilfeorganisationen der Geschichte. Das relative Wunder ihres Überlebens und ihres Wohlstands verdankt sie der Klugheit und dem Mut ihrer Vorfahren, die die schweizerische Unabhängigkeit und deren völkerrechtliches Siegel, die Neutralität, mit ihrem Leben verteidigt haben.
Dahinter steckte die Überzeugung, dass es der Schweiz besser geht, wenn die Schweizer selber über ihr Land bestimmen, als wenn dies ein mächtiger Zentralstaat, politische Parteien oder auswärtige Instanzen übernehmen. Sein oder Nichtsein? Folgt die Schweiz den Doktrinären des Unfriedens, den Predigern einer institutionellen Unterwerfung unter Brüssel oder den Nato-Fans in Militär, Medien und Politik, gibt sie ihre Existenzgrundlagen preis.
R.K.
