Weltwoche Kommentar 42/24

Kommentar

«Switzerland first»

«Switzerland first»
W

ir haben hier kürzlich über den «Pro­gessivismus» geschrieben, die gefähr­lichste Ideologie unserer Zeit, Ursache falschen Denkens und falscher Politik. Sie kommt in allen Milieus vor, linken, liberalen, aber auch solchen, die sich für konservativ halten.

Urvater dieser Weltsicht ist der amerikani­sche Politikforscher Francis Fukuyama. Nach dem Fall der Berliner Mauer schrieb er den Bestseller «Das Ende der Geschichte». Der demokratische Liberalismus habe gewonnen, alle wollen wie die Amerikaner sein.

Das Szenario trat nicht ein. Nicht alle ­wollen wie die Amerikaner sein oder sich von ihnen herumkommandieren lassen. Also legte Fukuyama eine neue Platte auf: Den Skeptikern müsse nachgeholfen werden, bis das Geschichtsende dann doch, nun aber unwider­ruflich komme.

Das ist Progressivismus, der Glaube an die grundsätzliche geschichtliche Überlegen­heit eines bestimmten politischen und ideo­logischen Modells, eben des amerikanischen, liberalen oder neoliberalen Denkens. Alle anderen sind geschichtlich minderwertig. Angeblich.

Fukuyamas Buch war extrem erfolgreich und prägend, auch in der Schweiz. Nach der «Zeitenwende» von 1989 fuhren die Schweizer die Armee herunter, strebten sie in die EU, in die Nato, in die Uno. Allmählich ist man skep­tischer, vor allem bei der EU.

Mit Fukuyamas progressiver Denkschrift hat sich eingebürgert, die Welt in Gut und Böse auf­ zuteilen wie im Kalten Krieg. Hier die Guten, die «Demokraten», die «Liberalen», die «Progressi­ven». Sie haben die Geschichte auf ihrer Seite.

Wo es Gute gibt, braucht es die Bösen, die «Nichtdemokraten», die «Despoten», die «Diktatoren», die dem Endziel der Geschichte, wie es Fukuyama sieht, im Weg stehen. Des­halb sind sie, Auslaufmodelle allesamt, aus dem Weg zu räumen.

Früher glaubten nur die Marxisten an solchen geschichtsphilosophischen Unsinn. Auch sie sahen sich als Vollstrecker der Histo­rie. Doch da der Endsieg des Proletariats nicht von selber kam, «musste» er, so sah es Lenin, gewaltsam herbeigehebelt werden.

Die marxistischen Irrtümer beseelen heute nicht nur Linke, sondern auch Rechte. In der Schweiz denken viele Liberale so, auch Konservative, die «Woke»-Konservativen, die «­Neocons». Es sind Kreuzzügler, im Auftrag der ­Geschichte.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es gibt kein Ende der Geschichte. Es gibt auch keine historischen Gesetze, mit denen man sich verbünden kann. Unausweichlich aber ist die Vielfalt der Zivilisationen, manche gefallen uns besser, andere weniger.

Der Anspruch, die Welt nach seinen Mass­stäben umzubürsten, den anderen nur dann zu akzeptieren, wenn er deckungsgleich ist mit mir, ist kindisch. Keine Macht ist mächtig genug, allen anderen den eigenen Willen auf­zuzwingen.

Das ist die Botschaft der aktuellen ­Kriege. Weder Russland noch die USA oder China können die Welt beliebig gestalten. Man reibt sich auf in Schützengräben, fährt sich fest, verbraucht sich. Ohne Verhandlungen, lieber früher als später, geht es nicht.

Der «Progressivismus» wird der neuen Welt­unordnung nicht gerecht. Die Sehnsucht nach klaren Fronten führt in die Irre. Wir müssen zurück zum Realismus. Jedes Land muss selber be­stimmen dürfen, was in seinem Interesse liegt.

Die «Woken», die «Progressiven» aber sor­tieren die Welt in Gut und Böse. Sie reden uns ein, wir hätten uns auf eine Seite zu schlagen im heiligen Krieg. Sie predigen im Namen der Freiheit, aber das Blockdenken beschränkt die Auswahl, limitiert die Freiheit.

Auch in der Schweiz sind diese Irrlehren auf dem Vormarsch. Der Bundesrat hat die Neutralität, also die Unabhängigkeit des Landes, preisgegeben zum Teil. Unsere Wehr­ministerin und ihr Armeechef streben, schweiz­müde, irrlichternd, in die Nato.

Die Schweiz aber kann sich eine Aussenpolitik des Gut-und-Böse, des Entweder-oder nicht leis­ten. Genauso wenig wie Europa. Wir müssen zu­erst für uns schauen, dürfen nicht zu Erfüllungsgehilfen der Interessen anderer werden.

Kriege unter Menschen sind leider unver­meidlich. Wir sollten darauf hinwirken, sie zu beenden und nicht selber auch noch zu be­feuern. Nur Verzweifelte, die sich aufgegeben haben, ziehen Mauern hoch. Haben wir das Vertrauen in uns selbst verloren?

Ich glaube, Donald Trump wird es noch ein­mal schaffen. Es wäre eine gute Nachricht für die Welt. Sein Leitspruch lautet: «America First». Das heisst: Jedes Land hat das Recht, vielleicht die Pflicht, zuerst für sich zu schauen.

Wer die eigenen nationalen Interessen ernst nimmt, hat auch Verständnis, wenn andere dies tun. Realisten wie Trump glauben nicht, dass man anderen Staaten und Völkern die eigene Lebensweise aufzwingen soll. Es braucht Kom­promisse, einen «Deal».

«Switzerland first» heisst: Wir kümmern uns zuerst einmal um die Schweiz und nicht darum, zu wem Taiwan gehört oder ob die Ukraine ein Nato-Staat ist oder neutral. «Switzerland first» heisst, dass wir niemanden be­lästigen. Ausser er belästigt uns.

Ich glaube, Donald Trump wird es noch einmal schaffen. Es wäre eine gute Nachricht für die Welt.

Fukuyamas Weltsicht, die Grundlage des «Progressivismus», ist kolonialistisch. Sie geht von der Überlegenheit der eigenen Zivilisation und der Minderwertigkeit aller anderen aus. Diesen Quatsch sollten wir uns nicht zu eigen machen.

Wir sollten nicht versuchen, auf der richti­gen Seite der Geschichte zu stehen. Wir sollten uns bemühen, freundliche und sachliche Beziehungen zu pflegen mit möglichst vielen, über Differenzen hinweg.

Das ist nicht «Appeasement», wie die «Wokisten» und Fukuyama-Fans, die Neo­konservativen, die Progressiven und auch die Grünen behaupten. Es ist die Einsicht, dass keine Macht mächtig genug ist, der ganzen Welt ihren Willen aufzuzwingen.

Progressivismus vergiftet die Welt. Weil er neben sich nichts anderes duldet. Aber die Vielfalt der Machtzentren und der Zivilisationen ist unentrinnbar. Schmerzhaft setzt sich diese Einsicht durch.

R.K.

Cover: VBS/DDPS

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