Rettet das Frühfranzösisch!
eschätzte Miteidgenossen: Ich muss mich korrigieren. Womöglich lag ich falsch mit meinen Ansichten zum sprachlichen Frühunterricht an unseren Schulen. Ein militanter Gegner einer frühen Einführung des Französischen, auch des Englischen, war ich zwar nie, aber doch ein Skeptiker einer, wie mir schien, drohenden babylonischen Sprachverwirrung bei unseren Kindern. Ich sah darin eine pädagogische Zwängerei, eine Art linguistisches Gutmenschentum nach der Art: Linke Oberlehrer zwingen unseren Kleinen den nationalen Zusammenhalt mit der Brechstange auf, vor allem aber mit der praktischen Folge, dass sie am Ende gar keine Sprache mehr können und abtauchen in dieses Kauderwelsch der Pausenplätze, das mir vorkommt, als sei ich ein Fremder am eigenen Küchentisch.
Heute muss ich sagen: Rettet das Frühfranzösisch! Der Entscheid des Zürcher Kantonsrats, das Französische aus der Primarschule in die Oberstufe abzuschieben, ist ein Kapitalfehler zum dümmsten Zeitpunkt. Gerade jetzt, da die Welt in Aufruhr versinkt und wir Schweizer uns fragen müssen, wie wir im Raubtierdschungel der Grossmächte überleben wollen, kappen die Zürcher Konservativen einen sprachlichen Lebensnerv. Ist das übertrieben formuliert? Nein, es stimmt. Die Mehrsprachigkeit ist – neben der direkten Demokratie, dem Föderalismus und unserer grossartigen Neutralität – ein existenzieller Pfeiler der Schweiz. Unterschiedliche Sprachen, Mentalitäten und Glaubensbekenntnisse leben auf engem Raum beieinander. Das ist die Schweiz, weltweit einzigartig, die Perle unseres Sonderfalls.
Manche Eltern und Lehrer wenden ein: Das Frühfranzösisch bringt nichts. Die Kinder nehmen es nicht auf. Am Ende der Primarschule müssen sie wieder bei null beginnen. Deshalb: weniger Sprachen, mehr Rechnen! Das klingt überzeugend. Doch etwas übersehen sie. Vielleicht lernen die Primarschüler auf Anhieb kein Französisch, aber sie lernen etwas viel Wichtigeres: Sie lernen, dass es die Schweiz gibt, ein mehrsprachiges Land. Schweizer sein heisst zuhören können. Empfindliche Empfangsantennen sind Teil unserer nationalen Eigenschaften. Mehrsprachigkeit fordert und fördert Toleranz, die nicht in Gleichgültigkeit umschlagen darf. Es ist eine behutsame Balance. Friedrich Dürrenmatt, selber an der Sprachgrenze lebend, drückte es so aus: Die Schweiz funktioniert so gut, weil sich die Schweizer gegenseitig in Ruhe lassen.
Das ist klug erkannt. Der Zusammenhalt leidet, wenn man sich zu nahe kommt. Die Schweizer haben für sich einen subtilen Modus Vivendi entdeckt, ein faszinierendes Gewebe an Institutionen und kulturellen Techniken, die gleichzeitig die Kohäsion wie auch die relative Eigenständigkeit ihrer Bewohner sicherstellen. Die Schweiz, diese Stammesgesellschaft stolzer Minderheiten, ist eine Nation aus mehreren Nationen.
Aber die Schweiz war doch schon ein Staat, sie war schon mehrsprachig, bevor es Frühfranzösisch in den Schulen gab! Den Zusammenhalt sicherte ausreichend die Idee, der Mythos eines Staates, der sich auf der Freiheit gründet. Wilhelm Tell ist heute auch ein Nationalheld im Kanton Waadt, der lange unter Berner Knute war. Und umgekehrt: Der Waadtländer Weltkriegsgeneral Henri Guisan wird in der Deutschschweiz vergöttert, vor allem bei der SVP, nicht unbedingt die Lieblingspartei der Romandie.
Das alles ist richtig, trotzdem bleibt die Streichung des Frühfranzösischs falsch. Natürlich bricht die Schweiz noch lange nicht auseinander. Doch der Zusammenhalt bröckelt. Es ist eine schleichende Erosion, wie an den Küsten von Ibiza. Früher verbürgte die Armee den Austausch unter den Landesteilen. Grosse Firmen schickten ihre Lehrlinge, Eltern ihre Kinder aus der deutschen in die französische Schweiz.
Das ist vorbei. Die Schweizer, Wohlstandfett, ziehen es vor, ihre eigenen Runden zu drehen. Gepflegt lebt man aneinander vorbei. Die Armee haben sie in Bern erfolgreich kaputt reformiert und weggeschrumpft. Die Religion der Massenzuwanderung mit all ihren importierten Problemen befördert den allgemeinen Rückzug ins Private. Wozu noch die Schweiz? Wir haben ja Brüssel, die Nato. Das ist die Storyline der grossen Medienhäuser, der Neuen Zürcher Zeitung, von Tages-Anzeiger und Ringier. Angesichts von Trump, Ukraine und Klimawandel predigen sie, die Schweiz könne nur bestehen, wenn sie sich den internationalen Institutionen unterwirft. Guisan und Tell müssen ins Museum, Denkmäler des Vergessens, abschreckende Relikte toxisch-eidgenössischer Männlichkeit.
Wir erheben Einspruch! Die Schweiz ist aktueller denn je. Wir sehen ja, wie die internationalen Gremien versagen, allen voran die EU, dieses ewige Sanatorium der Politik. Die Schweiz ist die älteste und erfolgreichste Selbsthilfeorganisation der Welt. Und das Tohuwabohu der Gegenwart, die Kriege und Krisen, werfen uns Schweizer wieder einmal auf die gute alte Schweiz zurück. Was ist das, die Schweiz?
Jetzt schlägt die Stunde der nationalen Konversation. Diskussion ist gefragt, Streit, alle reden mit allen über alles. Ausgerechnet jetzt die sprachlichen Verbindungslinien in der Schule abzuschneiden, ist eine Dummheit erster Güte. Gerade die SVP, die sich als Gralshüterin der schweizerischen Exzeptionalität begreift, treibt den Unsinn noch voran, aber auch die anderen bürgerlichen Parteien ziehen schweizblind mit.
Vielleicht ist es mehr symbolisch als materiell. Natürlich sind die Institutionen unseres Staates die kräftigsten Anker der Zusammengehörigkeit. Aber die Sprache ist mehr als nur Software. Sie ist die Seele, in der sich die Gedanken formen, was wir denken, wer wir sind. Anstatt dem Englischen zu huldigen, wäre neben dem Französischen auch das Italienische zu fördern. Sprache ist nicht alles, aber sie ist Teil der Identität.
Der Druck auf die Schweiz wird zunehmen. Die EU steckt in der Dauerkrise und will an unser Geld. Haben wir die Kraft, unsere Neutralität gegen die Kriegsparteien in der Ukraine zu verteidigen? Alle zupfen und zerren an der Schweiz, wollen sie auf ihre Seite ziehen. Streiten sich die Raubtiere um ihre Reviere, sollte der Kleine sich raushalten und auf die eigenen Stärken, auf die eigene Wesensart besinnen.
Nur die Schweizer können der Schweiz gefährlich werden. Verlässt sie der Wille, gibt es keine Willensnation mehr, stirbt die Schweiz. Davor rettet uns auch das Frühfranzösisch nicht. Doch wir sollten die Luftlinien, die unseren Zusammenhalt verstärken, nicht noch durch eigene Dummheit beseitigen. Die Schweiz steht vor schwierigen Fragen. Wie wollen wir sie beantworten, wenn wir nicht mehr richtig miteinander reden können?
R.K.
