Hurra, wir kapitulieren!
Frankfurt am Main
er Titel ist nicht von mir, aber er passt. Der deutsche Publizist Henryk M.Broder formulierte in anderen Zusammenhängen den Satz, der beschreibt, was in der Schweiz gerade passiert. Unsere Mainstream-Medien sagen sofort und schon seit Samstag mehr oder weniger freudig ja zum EU-Unterwerfungsvertrag von Bundesrat Ignazio Cassis. Als hätten sie überhaupt Zeit gehabt, das über tausendseitige Ungetüm, das ihnen erst zwei Stunden vor der Medienkonferenz am Freitag zugestellt worden war, ernsthaft zu studieren.
Hurra, wir kapitulieren: Fabian Schäfer proklamierte in der Neuen Zürcher Zeitung: «Die Schweiz sollte es wagen.» Sein Kollege Hansueli Schöchli versuchte die Zweifler zu beschwichtigen und pries den «Wert der Schutzklausel». Patrik Müller (CH Media), der quirlige Raphael Rauch (Sonntagsblick), Mischa Aebi und Adrian Schmid (Sonntagszeitung) griffen hymnisch in die Harfen. Am kritischsten war noch Philipp Loser (Tamedia). Dem linksliberalen und durchaus EU-freundlichen Polit-Routinier wurde es ob all der Lobgesänge dann doch etwas zu viel.
ngleich lange Spiesse oder (gemäss SVP-Präsident Marcel Dettling) ungleich lange Hellebarden: Der Bundesrat hat sich monatelang Zeit gelassen, gleich vier Gutachten bestellt, alle Kanonen geladen. Die Gegner wussten wenig und müssen jetzt in aller Kürze die Papiere studieren und analysieren. Marcel Dettling übrigens nahm Bezug auf die Weltwoche und auf die Geschichte, dass Ignazio Cassis als 27-jähriger Arzt beim Videokassettenklau erwischt wurde. Dettling sagte: «Früher klaute er Videokassetten, jetzt klaut er uns die Volksrechte!»
Unsere Zeitungen wollen es ganz anders sehen. Ich fragte den Aussenminister, ob er ein Land kenne, das die Gesetze eines anderen Landes übernehmen müsse und bei Nichtübernahme bestraft werden könne. Cassis stritt es glatt ab, behauptete, die Schweiz müsse keine EU-Gesetze übernehmen, was eine offenkundige Unwahrheit war, um das Wort Lüge zu vermeiden. Der Bundesrat selber hält in seinem erläuternden Bericht, Absatz 2.1.5.2, ausdrücklich fest: «Die Binnenmarktabkommen müssen regelmässig an die relevanten Entwicklungen des EU-Rechts angepasst werden.»
Brüssel löst seine Wohlstandsund Friedensversprechen schon lange nicht mehr ein.
Bundesrat Cassis spielt die EU-Unterwerfung herunter. Es sei ein blosser «Handelsvertrag», der allerdings helfen werde, den Schweizer Wohlstand abzusichern. Wie das? Der EU geht es wirtschaftlich schlechter als der Schweiz. Sie fällt im Wettbewerb zurück. Führende EU-Funktionäre von Mario Draghi bis Christine Lagarde beklagen die monströse Bürokratie und schlagen Alarm («existenzielle Krise»). Mir ist kein Beispiel bekannt, dass der Bessere profitiert, wenn er die Regeln, Rahmenbedingungen und Strategien des nachweislich Schlechteren übernehmen muss.
Auch Cassis konnte es nicht erklären. In seinem Schlussplädoyer, das ein Journalistenkollege, der für den Vertrag ist, mit den Worten kommentierte «Ohne Herz, ohne Feuer», sagte der Aussenminister, er stütze sich bei der Beurteilung der EU «auf die Vergangenheit». Damit meinte er frühere Errungenschaften der Union. Aber wenn die Vergangenheit sein Massstab ist, warum ist der Bundesrat für einen Vertrag, der von der Schweiz verlangt, sich der zukünftigen Rechtsentwicklung aus Brüssel zu unterwerfen? Es ergibt keinen Sinn.
Interessanterweise waren die in Bern an der Medienkonferenz anwesenden Journalisten, also nicht die Jubel-Leitartikler vom Samstag, auffällig kritisch eingestellt. Vor allem die Kollegen aus der Romandie deckten Cassis mit skeptischen Fragen ein, insbesondere beim Thema Zuwanderung. Ein Deutschschweizer bohrte nach, warum man die EU-Migration nur bei wirtschaftlichen und sozialen, nicht aber bei ökologischen Problemen drosseln dürfe. Der Frage nach den Gesamtkosten wich Cassis aus, doch die Zahl steht schwarz auf weiss in den Unterlagen: 1,4 Milliarden Franken jährlich.
So viel kostet es die Schweiz, wenn sie das Knie vor der EU und ihren Richtern beugt. Für die Kommentaristen ist es ein «Wagnis», das man eingehen dürfe. Doch seit wann ist es ein «Wagnis», sich zu unterwerfen? Und dann auch noch dafür zu zahlen? Mit diesem Vertrag gibt der Bundesrat einem fremden Staatsgebilde und fremden Richtern mehr Macht und Einfluss auf unsere Rechtsordnung als jemals zuvor in der Schweizer Geschichte. Mit Ausnahme lediglich jener kurzen Periode, als die napoleonischen Armeen die Eidgenossenschaft besetzten.
Die EU bekäme einen mächtigen Knüppel in die Hand. Sie allein könnte Recht abändern. Bei der Zuwanderung, beim Strom, dem Landverkehr, den Lebensmitteln, der Gesundheit zöge sie die Fäden. Es wäre wohl eine Frage der Zeit, bis man die Mehrwertsteuer, da «wettbewerbsverzerrend», auf das höhere EU-Niveau verdoppeln müsste. Wer kann ausschliessen, dass die «Lex Koller» oder unser freier Arbeitsmarkt bestehen bleiben, wenn sie mit EU-Recht und EU-Richtlinien, die wir ebenfalls zu übernehmen haben, kollidieren? Dem Ausverkauf der Heimat wären Tür und Tor geöffnet.
uch Putin muss als Argument herhalten. Das Schreckbild des völkerverschlingenden Ungeheuers aus dem Osten fesselt die Fantasie unserer Aussenpolitik-Experten, die wie Pilze aus dem Boden schiessen. Obwohl es verboten ist, Putin zu verstehen, wissen alle ganz genau Bescheid, was das angebliche Moskau-Monster will. Nur die EU könne uns Schweizer noch aus der Todeszone retten, Brüssel als Stabilitätsfelsen im Sturm und die EU-Unterwerfung als politische Allzweckwaffe gegen Krieg und wirtschaftliche Not. Die Schweiz soll sich aufgeben, um ja nicht unterzugehen.
Wer will, mag das glauben. Man kann es aber auch ganz anders sehen. Die EU wankt über einem Sumpf von Schulden. Brüssel schränkt die Meinungsfreiheit ein, zensiert im Internet, unterstützt die Verfolgung oppositioneller Politiker und will unbotmässige Staaten künftig härter an die Kandare nehmen. In immer mehr Mitgliedsländern regieren EU-kritische Parteien. Das ist kein Wunder, denn Brüssel löst seine Wohlstands- und Friedensversprechen schon lange nicht mehr ein. Die EU ist heute neben der Ukraine die schrillste Kriegspartei gegen die Atommacht Russland. Jede Annäherung an so ein Gebilde vermindert nicht, sondern erhöht die Kriegsgefahr für unser Land.
R.K.