Weltwoche Kommentar 22/22

Kommentar

Gut, dass es die Schweiz gibt

A

m Rande der Session traf ich einen italienischen Journalisten. Er stammt aus Triest und hat einen Artikel über die Schweizer Neutralität geschrieben. Er wollte wissen, ob die Neutralität im klassischen Sinn noch berechtigt sei. Ich versuchte, ihm das Thema aus Sicht meiner Leitartikel zu erläutern. Die Schweiz müsse zurück zur dauernden, bewaffneten, umfassenden Neutralität.

Im Gespräch fiel mir auf, wie sehr der italienische Kollege die Schweiz bewundert. Von sich aus begann er zu erzählen. Beeindruckend fand er den Gemüsemarkt vor dem Eingang des Bundeshauses. So etwas wäre in Italien unmöglich, erklärte er. Das Parlamentsgebäude in Rom werde hermetisch abgeriegelt von Carabinieri und Strassensperren.

«Offensichtlich haben die italienischen Politiker Angst vor dem Volk», warf ich ein. Der Kollege nickte und fuhr gleich fort: Die Schweiz imponiere ihm als Land der Meinungsvielfalt. Als ich den Begriff «politische Klasse» ins Spiel brachte, winkte er ab. Verglichen mit dem drückenden Politapparat, der «Kaste», in Italien, sei die Schweizer Politik ein Inbild an Volksverbundenheit.

Zu meiner Erleichterung fand er unsere Neutralität weniger zerrüttet als ich. Er zweifelte weniger an der Idee als an ihrer Realisierbarkeit. Als wirtschaftliche Grossmacht sei die Schweiz doch massivem Druck der Amerikaner ausgesetzt. Wir waren uns einig, dass es auf der Welt, wären alle Staaten neutral wie die Schweiz, keine Kriege mehr gäbe.

Im Gespräch wurde deutlich, wie sehr die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, mit ihrem offenen politischen System, in dem die Bürger noch etwas zu sagen haben, eine absolute Ausnahme, eine echte Rarität bildet auf der Welt. Der Kollege wurde melancholisch, als er unser Land mit seiner Heimat verglich. Mein Lob, Italien sei die kulturelle Wiege Europas, munterte ihn nicht wirklich auf.

Fassungslos kommentierte er das Geschehen um die Ukraine. Natürlich sei der Krieg Putins zu verurteilen, aber so zu tun, als habe er den Angriffskrieg erfunden, sei lächerlich. Die Welt dürfe nicht in einen Weltkrieg hineinschlafwandeln. Schon jetzt sei der wirtschaftliche Schaden neben dem menschlichen Leid enorm. Man müsse schleunigst zurück an den Verhandlungstisch.

Der Kollege, der die Weltwoche offensichtlich gut kennt, hielt mir vor, ich hätte damals beim Irakkrieg 2003 zu naiv und einseitig die amerikanische Position vertreten. Ich musste ihm zum Teil recht geben. Man lernt ja auch aus Fehlern. Auch deshalb, erklärte ich, habe die Weltwoche heute ganz unterschiedliche Sichtweisen auf diesen Krieg, keine Einheitsdoktrin.

Übereinstimmung gab es wieder bei der Beurteilung der europäischen Interessen. Die Schweiz ist zwar kein EU-Mitglied, aber ein zutiefst europäisches Land, die Verkörperung europäischer Ideale, die in Brüssels Bürokratie vergessen gehen. Europa, sagte der Italiener, habe nichts davon, als Juniorpartner bei einem von den USA forcierten Rückfall in den Kalten Krieg mitzumachen.

Medien und Politik in den EU-Hauptstädten allerdings blasen zum Angriff. Deutsche Intellektuelle machen sich lustig über Kanzler-Zögerer Olaf Scholz, der achtzig Jahre nach dem letzten Krieg keine grosse Lust verströmt, einen neuerlichen Russlandfeldzug anzuzetteln (was ich durchaus nachvollziehen kann). Das Magazin Der Spiegel identifiziert in Sichtweite am Horizont schon den nächsten Feind: China.

Ich erinnere mich an «Dr. Strangelove oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben». Der Film ist eine böse Satire auf den Kalten Krieg. Die Strangeloves sind wieder unter uns, Kriegsgurgeln des Guten. Man findet Gefallen am neuen Rausch der Konfrontation. Die Kampfparole lautet: Demokratie gegen Autokratie, Westen gegen Osten. Friedliche Koexistenz: Das war einmal. Die Fronten versteinern.

Ist das wirklich nötig? Ich habe meine grossen Zweifel, und ich glaube, mein italienischer Kollege, politisch zu Hause wohl eher auf der Linken, teilte sie. Natürlich gibt es gravierende politische Differenzen zwischen den Chinesen, den Russen und uns, und auch ich wäre glücklicher, wenn alle Staaten so regiert würden wie die Schweiz.

Aber ich befürchte, dass die neuen kalten Krieger die erfreulichen Fortschritte, die Angleichungen übersehen, die zwischen den USA, Sowjetrussland und China in den letzten Jahrzehnten unbestreitbar stattgefunden haben. Die Sowjetunion ist tot. China hat sich zum Kapitalismus-Turbo geboostert. Auf dem Tiger, den sie selber entfesselt haben, reiten in grösster Not die Kommunisten.

Anders, als uns die Paranoia-Nostalgiker des Kalten Kriegs einhämmern, ist die Welt nicht auseinander-, sondern zusammengerückt. Es gibt politische Differenzen, aber wir alle sind Teil der gleichen Weltwirtschaft freier Märkte. Die Zeiten ideologischer Todfeindschaft sind vorbei. Trotzdem dämonisieren die Amerikaner, verunsichert, China und Russland. Europa sollte dagegenhalten.

Der Einwand lautet, mein Argument vernachlässige die Menschenrechte. Ich glaube, die Chinesen sind bezüglich Uiguren tatsächlich keine Engel. Sie wollen an diesem Westaus- und -eingang der Seidenstrasse keine Unruhen und greifen eisern zu. China muss die Brechstange weglegen und die Probleme anders lösen. Aber ein Kollisionskurs des Westens brächte mehr Schaden als Nutzen.

Leider hat sich die Schweiz, wohlig betäubt im Überfluss, hineinziehen lassen. Der Wille zur Unabhängigkeit lässt nach. Die Neutralität wankt. Mit China droht es der Bundesrat sich zu verscherzen. Wir biedern uns der EU und den Amerikanern an, ohne Gegenleistung. Eine neutrale Schweiz, Oase der Verständigung, der Entspannung, ist gefragter denn je.

R.K.

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