Aussenpolitische Demenz
Leverkusen, Erfurt
ie Geopolitik ist zurück. War sie jemals weg? Oder nur mit einem Zuckerguss an Lügen überkleistert? Die Amerikaner schicken einen Flugzeugträger in die Gewässer vor Venezuela. Präsident Trump sagt, es gehe darum, südamerikanische Drogenkuriere zu versenken. Wer’s glaubt. Das rohstoffreiche Venezuela verhandelt gerade mit Russland und China. Das geht gegen amerikanische Interessen. Da kennen die USA keine Gnade. Planen die Amerikaner einen Regimewechsel in Caracas? Gut möglich. Es wäre nicht das erste Mal. Gewaltsame Umstürze sind eine US-Spezialität. Darin haben sie schon grosse Meisterschaft entwickelt.
Auch die Russen versuchen es gelegentlich. Doch sind sie einfach weniger kompetent. Präsident Putin versagte nach seinen Ansprüchen jämmerlich, als er vor etwas über drei Jahren ein Expeditionsheer von lediglich 190000 Mann in die Ukraine einmarschieren liess, um das Regime in Kiew gewaltsam abzulösen. Seine Motive aber waren die gleichen wie hinter Trumps Manöver gegen den südamerikanischen Sozialistenstaat. Das Selenskyj-Regime paktierte mit der Nato gegen Russland. Man war dabei, die Rückeroberung der längst russischen Krim vorzubereiten. Gleichzeitig führte Kiew Krieg gegen die russisch geprägten Gebiete im Osten. Also schlug Putin zu.
Das Gerede, der Kreml plane, den Westen, die Europäische Union, die Nato anzugreifen, ist Unsinn. Dazu fehlen den Russen die Mittel. Die 190000 Mann der Invasion inklusive der Spezialeinheit, die mit einer Luftlandeoperation in der ukrainischen Hauptstadt kläglich scheiterte, reichten nicht mal zum Sturz von Selenskyj. Inzwischen hat Moskau rund 700000 Mann im Feld. Sie rücken in Zeitlupe vor. Sie gewinnen. Daran besteht kein Zweifel. Doch der Angreifer hat grosse Probleme, wenn ihm der Verteidiger aus gesicherten Stellungen Drohnenschwärme entgegenwirft. Auf den gläsernen Gefechtsfeldern der osteuropäischen Ebene sind Soldaten und Panzer Kanonenfutter.
Hinter den Kulissen arbeiten die USA und Russland weiterhin an einem Friedensgipfel in Budapest. Unsere kriegsbesoffenen Medien nehmen davon keine Notiz. Eigentlich hatten sich Trump und Putin bereits geeinigt: Russland übernimmt Donezk und Luhansk vollständig, Saporischschja und Cherson bis zur heutigen Frontlinie. Die Ukraine wird neutral, ein Nato-Beitritt ist vom Tisch, und die Krim wird als russisches Territorium völkerrechtlich anerkannt. Sicherheitsgarantien hätten die USA unter Einbezug von Indien und vielleicht China geleistet. Putin war einverstanden. Doch am Gipfel in Alaska krebste Trump zurück. Die Ukrainer, aufgestachelt von den Europäern, sagten nein.
Sie waren nicht bereit, noch unbesetzte Gebiete im Nordosten aufzugeben. Also liess Selenskyj weiterkämpfen, sinnlos, weil er diese Territorien ohnehin verlieren wird. Dem ukrainischen Präsidenten machen Korruptionsskandale in seinem allerengsten Umfeld zu schaffen. Ausserdem, berichtet gerade die New York Times, löst sein zusehends tyrannisches Verhalten Unbehagen bei einigen Verbündeten aus. Eben liess der Autokrat den Bürgermeister von Odessa absetzen. Der Mann stand zwar selber im Ruf, korrupt zu sein mit Verbindungen zur Mafia, doch die Times hält es für ausgemacht, die durch Selenskyj gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen seien alle fabriziert.
An Selenskyjs europäischen Allianzpartnern tropfen solche Meldungen wie an Teflon ab. Sie halten an ihrer Nibelungentreue fest und unternehmen alles, um den Friedensprozess zu stören, wenn nicht aus dem Gleis zu werfen. Was bloss treibt die Vertreter der EU, des «europäischen Friedensprojekts», das so unbeirrbar auf dem Pfad eines nicht gewinnbaren Krieges wandelt? Nichts läuft europäischen Interessen dermassen zuwider wie ein gewaltsamer Konflikt mit Russland. Sollten die Eskalationsszenarien, die in einigen Köpfen herumspuken, tatsächlich eintreten, wäre Europa die Hauptkampfzone und Deutschland das Aufmarschgebiet.
Nennen wir es aussenpolitische Demenz. Oder zynisches Eigeninteresse? Einige deutsche Kommentatoren und Politiker verlieren jedes Mass. Der in den Talkshows hofierte CDU Hinterbänkler Roderich Kiesewetter brachte Ende September in einem Interview mit dem Handelsblatt den «Spannungsfall» ins Spiel, Art.80a des Grundgesetzes. Verabschiedete der Bundestag diesen Paragrafen mit einer Zweidrittelmehrheit, käme es in Deutschland zu einer Art Diktatur auf Zeit. Die Bürgerrechte würden eingeschränkt wie bei Corona, die Regierung bekäme gewaltige Vollmachten. Es wäre die Vorstufe zur Ausrufung des Kriegsfalls gegen Russland.
Stimmt sich unser nördliches Nachbarland mental auf einen Krieg ein?
Das sind keine irren Eskapaden, keine betrunkenen Ausschweifungen am Stammtisch. So reden deutsche Politiker bei voller Besinnung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ohne dass es in den Mainstream-Medien einen Aufschrei gäbe. Stimmt sich unser nördliches Nachbarland mental auf einen Krieg ein? Der Verdacht drängt sich auf, dass die an ihren dringenden Reformen überforderte deutsche Regierung den Krieg auch zur Ablenkung von ihren Problemen und ihrer Handlungsunfähigkeit benutzen könnte. An Anreizen fehlt es nicht. Im Ausnahmezustand etwa liesse sich die serbelnde Autoindustrie auf Befehl von oben zur Produktion von Kriegsmaterial umrüsten.
In einer Welt der Raubtiere und der Kriegsverwirrten kann die Schweiz nur überleben, wenn sie ihre nationalen Interessen und ihre Stärken pflegt: Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Nichts davon bietet die Europäische Union. Die multipolare Welt der Revierkämpfe und der Leviathane ist unsicher und gefährlich. Aber sie bietet auch Chancen der Zusammenarbeit. Da es immer wieder Konflikte gibt, bleibt der Neutrale als Schlichter gefragt. Beweglichkeit ist wichtig, die Aufrechterhaltung der grösstmöglichen Handlungsfreiheit. Passé ist Blockdenken. Für die sturmerprobte Schweiz wäre das alles nichts Neues. Wann merken es unsere Politiker?
R.K.
