Direkte Demokratie, Gebot der Stunde
ie direkte Demokratie ist die Perle unserer schweizerischen Staatsform. Wir dürfen unseren Vorfahren dankbar sein, dass sie sich diese Errungenschaft erkämpft, sie den damaligen Parlamentsbaronen um den allmächtigen Alfred Escher abgetrotzt haben. Die Freisinnigen haben gewaltige Verdienste um unseren Bundesstaat, das steht ausser Zweifel. Aber sie waren nie Freunde der direkten Demokratie, bis heute nicht. Ihre Staatsgründerhelden wehrten sich dagegen, befürchteten Pöbelherrschaft und Demagogie. Es waren die «Demokraten» aus der Stadt Winterthur, die sich gegen den elitären Zürcher Liberalismus durchsetzten und die Schweiz, alte Traditionen aufnehmend, zum demokratischsten Staat der Weltgeschichte machten.
Heute nehmen wir das alles wie selbstverständlich. Die Lockerheit, mit der unsere Politiker bereit sind, Volksrechte nach Brüssel abzugeben, ist erschreckend. Dabei hat der gelehrte Diplomat Dr. Paul Widmer schon vor vielen Jahren in seinem Standardwerk «Die Schweiz, ein Sonderfall» ein überzeugendes Plädoyer für die direkte Demokratie gehalten. Nicht nur fördere diese Institutionen den Zusammenhalt, sie verhindere auch die Entfremdung zwischen Volk und Politik, bilde ausserdem ein wirksames Kontrollinstrument gegen Parteien und Machtmissbrauch. Die direktdemokratischsten Kantone seien wirtschaftlich erfolgreicher und die Bürger informierter.
Man könnte die Liste der Argumente weiterführen. In der direkten Demokratie kann die Politik nicht so leicht die Themen kontrollieren. Es ist kein Zufall, dass die Schweiz die meisten der Debatten, die heute weltweit zu reden geben, schon vor zwanzig, dreissig Jahren vorwegnahm, Zuwanderung, Asylmissbrauch, Sozialgeldverschleuderung, Souveränität und Volksrechte, Umgang mit dem Islam, exorbitante Managerlöhne ohne Leistung. All diese Fragen sind oft gegen den Willen der Etablierten aufs Tapet gekommen, provokativ auf die Agenda gehebelt von Aussenseitern, die dann in den Medien geteert und gefedert wurden. Ohne die direkte Demokratie wären die entsprechenden Probleme auch in der Schweiz länger zugedeckt worden, allerdings mit weit fataleren Folgen, denn ein kleines Land kann sich solche Missstände erst recht nicht leisten.
Heute lesen und sehen wir, wie sich in unseren Nachbarländern die Wähler in Scharen von den etablierten Parteien, den «Altparteien», wie sie in Deutschland polemisch genannt werden, entfernen. Der raue politische Umgangston ist nicht nur das Begleitgeräusch eines wirtschaftlichen Abschwungs. Er ist auch Ausdruck eines weithin empfundenen Unbehagens gegenüber dem politischen Betrieb. Dieses Unbehagen ist nicht «geschürt» oder in der Retorte gezüchtet worden, sondern die nachvollziehbare Folge einer Enttäuschung. Die Bürger sehen, dass ihre Politik versagt, dass die herkömmlichen Parteien nicht liefern, ihre Versprechen nicht eingelöst oder schon gar nicht gehalten haben. Also sehen sie sich nach Alternativen um.
In den USA oder in Argentinien sind Politiker mit der Brechstange oder mit der Kettensäge unterwegs. Es gibt auch bei uns nicht wenige, die sich, voller Bewunderung, solche Trumpoder Milei-Typen für die Schweiz, für Deutschland oder andere Staaten wünschen. Vielleicht ist es das grösste Glück der Schweiz, dass ihr solche Brachialpolitiker bisher erspart geblieben sind, Gott sei Dank. Oder passender: der direkten Demokratie sei Dank! Denn allein der Tatsache, dass bei uns die Bürger selber über alles bestimmen, verdanken wir Schweizer eine bessere und erfolgreichere Ordnung, weniger Chaos, zufriedenere Bürger, niedrigere Steuern, ein wirtschaftsfreundliches Klima, eine intakte Umwelt, und sogar die auch hier aus dem Ruder laufende Zuwanderung scheint besser bewältigt als etwa in Deutschland, das bei tieferer Ausländerquote entschieden mehr und schrecklichere Gewaltverbrechen meldet.
Demokratie heisst, dass der Bürger der Chef ist, nicht der Politiker. Das ist in den repräsentativen Demokratien nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil. Dieses Regierungssystem scheint grenzübergreifend die Verfilzung und Kartellbildung an der Staatsspitze zu begünstigen, die Entstehung einer «classe politique», die es in der Demokratie eigentlich gar nicht geben sollte, da die Aufgabe der Parteien darin besteht, die Bürger zu repräsentieren, zu vertreten und sich ihnen nicht als erzieherische, belehrende, bevormundende, freiheitsberaubende oder gar enteignende Interessengruppe entgegenzustellen. Dies aber genau ist der Eindruck, den wachsende Wählerschichten bekommen. Ihnen wird von oben vorgegaukelt, Deutschland liefert ein Musterbeispiel, sie seien eine Gefahr für die Demokratie, «Verfassungsfeinde», wenn sie nicht wie bisher die machtgewohnten Parteien wählten. Die Etablierten, die Regierenden geben sich als Gralshüter der Demokratie aus, dabei wirft gerade ihr Verhalten die Frage auf, ob die repräsentative Demokratie in dieser degenerierten Form heute nicht Gefahr läuft, selber zur Gefahr für die Demokratie zu werden, grösser noch als die vielzitierten «Autokratien» des Ostens, namentlich Russland und China.
Darüber sprechen wir in dieser Ausgabe mit einer profilierten Stimme. Prof. Gertrude Lübbe-Wolff gehört zu den bekanntesten und renommiertesten Vertretern ihres Fachs. Bis zu ihrer Emeritierung 2018 lehrte sie in Bielefeld Öffentliches Recht. Sie gehörte von 2002 bis 2014 dem deutschen Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe an, den obersten deutschen Wächtern von Rechtsstaat und Demokratie in ihren roten Roben. In Anerkennung ihrer Leistungen wurde ihr der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis überreicht, der höchste Forschungspreis der Bundesrepublik. Ausgerechnet diese hochdekorierte Wissenschaftlerin tritt mit einem Plädoyer für die Einführung der direkten Demokratie in Deutschland in Erscheinung. Unter dem Titel «Demophobie. Muss man sich vor der direkten Demokratie fürchten?» entkräftet sie die landläufigen Argumente, die vor allem Politiker gegen die damit verbundene Aufwertung der Volks- und Bürgerrechte ins Feld führen. Frau Lübbe-Wolff sieht in der direkten Demokratie ein Gebot der Stunde, weil nur so die um sich greifende Demokratieverdrossenheit gestoppt werden könne.
R.K.
