Anna Netrebko vs. «Downton Abbey»
llabendlich entdeckt man mich fast angeleimt vor meinem iPad-Bildschirm, mit der Maschine feinstofflich, innigst verbunden durch kabellose Kopfhörer, aus denen, hörbar nur für mich, das makellose Bühnenenglisch des von mir wie süchtig eingesaugten Netflix-Serienknüllers «Downton Abbey» dringt.
Nur mit grössten Schwierigkeiten gelingt es mir, mit zufallenden Augen, von Müdigkeit besiegt, mich von diesem so wunderbaren Wehmutsmelodram über die britische Oberschicht des frühen 20.Jahrhunderts loszueisen. Ich bin zwar weder Monarchist, noch bewerbe ich mich um einen Adelstitel, doch «Downton Abbey» ist Kult. Für mich.
Warum? Darüber kann man jetzt rätseln. So richtig gepackt hat es mich in den Herbstferien, als wir mit den Kindern die jüngste und letzte Kinofassung «Downton Abbey – The Grand Finale» reingezogen haben. Ich spürte in mir das unbezwingliche Bedürfnis, mir nachträglich alle fünf Staffeln anzuschauen.
Der zündende Trick des Erfinders Julian Fellowes besteht darin, dass er das Konzept der legendären TV-Serie «Das Haus am Eaton Place» neu aufkochte, ein Familienschicksal der Hocharistokratie, gespiegelt auch im Alltag der Bediensteten. Wir sehen die Handlungen vor realem historischem Hintergrund aus doppelter Perspektive.
Ich könnte jetzt eine soziologisch dilettierende Abhandlung über die Faszinationskraft der britischen Klassengesellschaft schreiben. Da sind die Lords, die Hochwohlgeborenen mit der sardonischen Grossmutter, umwerfend gespielt von Maggie Smith, die Töchter und Verwandten, der Butler, die kleinen und grossen Dramen.
Jeder Rang hat seine Würde, die subtilen Abstufungen der Dienerschaft, das eitle Distinktionsgehubere der höheren Gesellschaft, aber auch die natürlich wirkende Selbstverständlichkeit einer Ständeordnung, in der jeder seinen Platz hat, am besten seit Jahrhunderten.
Das alles ist eingehüllt und eingelullt ins Morphium der Nostalgie, in schwelgerische Bilder der guten alten Zeit, in der jeden Moment ein Detektiv Poirot oder eine Miss Marple aus den Kulissen steigen könnte. Wir leiden mit, als die «Titanic» versinkt und der Erste Weltkrieg in den Schützengräben wütet. Das «Grand Finale» endet 1930.
Doch halt, stopp, Schnitt. Was soll das? Woher auf einmal dieser Drang, aus der Wirklichkeit, aus dem Hier und Heute zu verduften in die Traumwelt der Privilegierten, die man als Schweizer ja nur schon genetisch abzulehnen hat? Beim Zeitunglesen finde ich einen Hinweis, was hinter meiner beunruhigenden Fluchtbewegung stecken könnte.
Mich beschäftigen die Rezensionen über eine Neuinszenierung des Verdi-Klassikers «La forza del destino» mit der russischen Starsopranistin Anna Netrebko am Zürcher Opernhaus. Kein noch so kaltes Herz bleibt hart angesichts der elementaren Wucht dieser leidenschaftlichen Gefühlsoper um Missverständnis, Krieg, Ehre, Liebe und Tod.
Die Uraufführung fand 1862 in St.Petersburg statt, nicht im Mariinski-Theater, sondern im abgebrannten und später abgerissenen Bolschoi-Kamenny. Giuseppe Verdi war nicht nur anwesend, er stand auch am Pult, als Perfektionist höchstpersönlich dirigierend, so selbstverständlich war Russland damals noch eingebunden in die europäische Kultur.
Mutig wäre es vielleicht gewesen, das schönste Opernhaus in einem theoretisch neutralen Staat wie der Schweiz als Bühne, als Echoraum dieser historischen Klangverbindung, dieser Opernluftlinien zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu nutzen, doch anscheinend war das Gegenteil der Fall.
Schon im Vorfeld hatte es Radau gegeben. Die ukrainische Botschaft protestierte gegen den Auftritt der russischen Sängerin. Nun lese ich in den Zeitungen, dass auch die Inszenierung in den Strudel des Ukraine-Kriegs geriet, ja, zur eigentlichen Kriegserklärung an das Publikum und an die schweizerische Neutralität.
Es muss ein abgefahrenes, irgendwie irres Spektakel gewesen sein. Die Medien berichten, die Regisseurin, eine Argentinierin, habe Netrebko vor den Kulissen eines zerbombten Zürich singen lassen: Seht her, ihr verlogenen Schweizer, auch eure Neutralität schützt euch vor Kriegen nicht!
Wir kennen, bis zum Abwinken, die Botschaft aus den Fernsehnachrichten und den Talkshow-Arenen. Jetzt wird sie uns also auch noch an der Zürcher Oper eingehämmert (jährliche Subventionen aus Steuergeldern: 88,47Millionen Franken). So ähnlich, denke ich mir, könnte es auch in der Sowjetunion gewesen sein: kein Entrinnen aus der Politik!
Krieg ist Kultur, und Kultur ist Krieg. Bitte nicht. Habt Erbarmen! Aber wenigstens weiss ich jetzt, warum ich unsere Theater und Opernhäuser meide, um stattdessen in nächtlichen Zauberstunden oder im Zug kürzlich aus Milano vor meinem iPad dem unschuldigen Genuss einer künstlerisch brillant gemachten Streaming-Serie zu frönen.
«Downton Abbey» ist eine Putin-freie Zone. Auch der Rechtspopulismus kommt nicht vor. Stattdessen beobachten wir interessante, vernünftige, dumme, intrigante, witzige, aber auch herzensgute Menschen beim Diskutieren und Meistern ihres Alltags. In einer Episode kommen sogar Russen vor. Sie werden erstaunlich sympathisch dargestellt.
Wie wohltuend! Vor vielen Jahren habe ich beim linken Philosophen Richard Rorty gelesen, die nobelste Aufgabe der Kunst bestehe darin, Verständnis zu schaffen zwischen Menschen und Kulturen. Wäre das nicht gerade in kriegerischen Zeiten besonders gefragt? Oder zu viel verlangt?
Vermutlich hat die argentinische Regisseurin jetzt das ehrliche Gefühl, ihr Kettensägenmassaker im Tarnanzug einer grossartigen Verdi-Oper sei ein mutiges Manifest, ein Akt des zivilen Ungehorsams, ein singender Aufstand der Guten gegen das Böse. Lassen wir ihr die schöne Illusion.
Ich freue mich jetzt auf die nächste Folge von «Downton Abbey», in der sich die Adelsfamilie Crawley gegen ihren unvermeidlichen Abstieg stemmt. Aber eine gute Nachricht von der Opernfront bleibt: Die Zürcher seien begeistert von der russischen Sängerin Netrebko. Die Musik ist eben doch stärker als der Krieg. Und die Regie.
R.K.
