Weltwoche Kommentar 41/25

Kommentar

Rückkehr der Diplomatie

E

s ist schon fast unheimlich, in welchem Tempo Gewissheiten, Annahmen, für unumstösslich gehaltene Wahrheiten in letzter Zeit zu Staub zerfallen. Der ganze Überbau an Illusionen und falschen Vorstellungen, die unsere Politik während der letzten Jahre prägen, auch in der Schweiz, verschwindet, löst sich auf vor unseren Augen. Zum Vorschein kommt, ungeschminkt, die Wirklichkeit.

Nehmen wir den «Multikulturalismus», diese Idee einer «United Colors of Benetton»-Welt der offenen Grenzen und der ungehinderten Migration. Dieses Dogma, das vor allem unsere Journalisten anbeten, zum Erkennungszeichen moralischer Vortrefflichkeit hochschreiben – Widerspruch war lange Zeit verboten –, ist als Irrtum, als Mode, als Täuschung und als Betrug durchschaut.

Ähnlich ergeht es einer anderen PseudoWahrheit aus letzter Zeit, dem Aberglauben, der Nationalstaat gehöre auf den Abfallhaufen und die Zukunft den «internationalen Institutionen», der Uno, der WHO, der WTO und wie sie alle heissen, der Nato und der EU, diesem Geflecht an Überfliegerkonstrukten, die an die Stelle des abgehalfterten Nationalstaats treten sollten, denn dieser sei mit seinen Aufgaben überfordert.

Passiert ist das Gegenteil. Nicht die Nationalstaaten versagen, die internationalen Institutionen liefern nicht, zerschellen an der Wirklichkeit. Warum? Weil sie an der Lösung der Probleme scheitern, die wir ohne sie nicht hätten. Dramatisch sehen wir es in der EU. Die EU ist heute handlungsunfähig, ausserstande, Fehler zu korrigieren, einen einmal eingeschlagenen, aber als falsch erkannten Weg zu verlassen.

Aus der Schweiz sehen wir es klarer, weil wir selber nicht drinstecken. Noch nicht. Die EU-Staaten sind unbeweglich, wie eingeschraubt in ein Korsett und kaum mehr in der Lage, ihr Schicksal selber zu bestimmen. Unser Land ist unabhängig, aber sehen die Schweizer die Vorteile, die das mit sich bringt? Wir können handeln, reagieren, uns anpassen, Fehlentscheide stoppen, zum Beispiel in der Energie- und Klimapolitik.

Oder schauen wir auf den Krieg in der Ukraine. Dieser Konflikt ist Ausdruck und Resultat des Zusammenbruchs der amerikanischen Hegemonie. Nach dem Kalten Krieg gaben die USA den Ton an, Russland, China, Indien waren zu schwach, die EU navigierte bequem im Fahrwasser Washingtons. Fröhlich dehnte sich «der Westen» mit seiner Nato gegen Osten aus, bis auf die Zähne bewaffnet mit guten Absichten.

Und natürlich: Bei den früheren Sowjet-Trabanten stiess man auf offene Arme, wer wollte es ihnen verdenken. Doch im Übermut der Übermacht vergessen ging der grollende Verlierer. Der Westvormarsch züchtete in Russlands Seele das Gift des Ressentiments, aber auch legitime Sicherheitsbedenken. Plötzlich rief Moskau: bis hierher und nicht weiter! So explodierte die Ukraine und mit ihr die Vorherrschaft der USA.

Jetzt streiten wieder mehrere Leviathane um ihr Revier. Das «Ende der Geschichte» ist vorbei. Die Geschichte kehrt zurück und mit ihr die Geopolitik, die Realität, der Krieg, den man überwunden glaubte («Schweiz ohne Armee»). Eine neue Zeit der Unübersichtlichkeit bricht an nach Jahrzehnten steifgefrorener Fronten vor dem Fall der Sowjetunion und der kurzen amerikanischen Dominanz danach.

Jetzt müssen alle wieder Richelieu lesen und Clausewitz, Thomas Hobbes und Jean Bodin, die Praktiker und Theoretiker der Macht und des Konflikts, der Kriege und der Diplomatie. Die alten Regeln, von den USA errichtet im Moment des Triumphs, greifen nicht mehr. Staaten wie Indien, Brasilien, China oder Russland fragen sich, warum sie sich an Regeln halten sollen, an denen sie nicht mitgeschrieben haben.

Oder an Regeln, mit denen die Sieger des Kalten Krieges sicherstellen wollen, dass sie auch in Zukunft gewinnen und die Verlierer von einst, die längst aufholen, überholen, unten bleiben. Solange man im Westen nicht versteht, dass hinter dem Ukraine-Krieg nicht einfach der böse Russe mit seinem angeblich angeborenen Imperialismus steckt, sondern auch die eigene Überheblichkeit, werden wir keinen Frieden haben.

Die neue Welt der Bestien, der Raubtiere, der Machtstaaten bildet keine Lichterkette. Sie ist ein brandgefährlicher Ort. Stabile Allianzen gibt es nicht mehr. Die Zukunft ist nebliger denn je. Das Versprechen einer Weltherrschaft der Erleuchteten mit Regeln, die, in Washington, New York und Brüssel ausgebrütet, für alle gelten sollen, hat sich nicht erfüllt. Im Dschungel der Interessen schaut jeder zuerst für sich selbst.

«America first» ist der Slogan, den schlauerweise als Erster Donald Trump freilegte. Für viele klingt es nach Affront. Dabei ist es ein Durchbruch zu mehr Ehrlichkeit. Immer schon schauten die Staaten für sich, allen voran die Amerikaner, aber endlich versteckt man diese Offensichtlichkeit nicht mehr unter einem Zuckerguss süsslicher Verlogenheit. Darin war Trumps Vorgänger Obama unerreicht.

Es ist nicht so, dass die alten internationalen Institutionen ihren Sinn verloren hätten. Sie sind das Beste, was wir haben, und das «Völkerrecht», das allerdings kaum je die Völker, sondern meistens ungewählte Funktionäre erlassen haben, bleibt ein wichtiges Ideal. Fürs Erste allerdings ist diese Ordnung ausser Kraft, so lange, bis man ein neues Gleichgewicht gefunden hat unter Berücksichtigung der neuen Verhältnisse.

Im Raubtiergehege regiert die Macht. Jederzeit kann es zu Spannungen und Konflikten kommen und zum Krieg. Alle fahren auf Sicht, Misstrauen prägt das Klima. In dieser rauen Umgebung sind die Nationalinteressen der unverzichtbare Wegweiser des Überlebens, Wegmarken und Erkenntnishilfen. Wer seine Interessen nicht sieht oder dagegen handelt, geht unter. Die EU treibt es schon recht weit damit.

Keine Experimente, das Bewährte kehrt zurück. Traditionen gewinnen an Bedeutung, der gespeicherte Erfahrungsschatz in der Kunst des Überlebens. Vorbei ist die Zeit des Blockdenkens, des Kolonialherrenstils, der im Westen niemals ausstarb. Mit den Schablonen aus dem Kalten Krieg – wir die Guten, ihr die Bösen – kommt man nicht mehr weit. Wir sehen sie bereits, die Renaissance der Diplomatie.

In der Klemme steckt die EU. Sie hat verlernt, die Welt auch durch die Augen eines anderen anzuschauen. Man redet von «Diversity», akzeptiert aber nicht die neue Machtvielfalt. Doch wo niemand mehr dominiert, ist Zusammenarbeit gefragt, Respekt, Verständigung, Diplomatie, das Gespräch nicht über Werte, sondern über Interessen. Trump hat es gemerkt, die EU noch nicht. Sie lebt in den Ruinen eines Denkens, das aus der Zeit gefallen ist. Davon sollte sich die Schweiz weder rein- noch runterziehen lassen.

R.K.

Cover: Jens Schwarz/laif; Bildbearbeitung: Wieslaw Smetek für die Weltwoche

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