Drachentanz und 99 Luftballons
chtung, die Lektüre dieses Editorials können Sie sich schenken. Weder geht es um Krieg noch um Politik. Die aufreizende Blindheit unserer Regierenden, deren flagrante Weigerung, etwas gegen die längst in alle Schweizer Lebenswinkel vordringende Misere einer ungezügelten Zuwanderung zu unternehmen, ist nicht mein Thema. Interessante Parallelen früherer Ereignisse zu heute ziehe ich keine. Nein. Für einmal soll nur der reine, pure, ungefilterte Eskapismus im Zentrum stehen, das Schöne und Freudvolle. Frönen wir für einmal der Flucht aus unserer trüben Wirklichkeit.
Diesen Ansatz wähle ich deshalb, weil die Realität, die brodelnde Tollheit unserer Zeit nur schwerlich auszuhalten ist. Während ich dies schreibe, erreicht mich zum Beispiel aus glaubwürdiger Quelle eine Meldung des russischen Geheimdiensts, wonach die mit der Ukraine verbündete «Legion Freiheit Russlands» und das auf westlicher Seite kämpfende «Kastus-Kalinouski-Regiment» aus Belarus verdeckte Operationen in Polen planen, Attacken auf kritische Infrastrukturen, die man den Russen in die Schuhe schieben soll, um die Nato und die Amerikaner noch viel tiefer in den Krieg zu ziehen.
Die Situation im Osten Europas erinnert mich inzwischen beunruhigend an die berühmte Eröffnungssequenz des Science-Fiction-HorrorKlassikers «Alien» von Ridley Scott mit dem vom Schweizer H.R.Giger designten Ungeheuer. 1980 gewannen die Filmemacher dafür einen Oscar. Neben dem versteinerten Cockpit eines gestrandeten Raumschiffs, abgelagert unter den Staubschichten der Jahrhunderte, entdeckt die Crew im Lasernebel verkrustete Weltraumeier, aus denen, kaum begibt man sich in deren Nähe und kratzt an ihrer Aussenhülle, wie aus Eiterbeulen glitschige Monster springen, die, so stellt sich heraus, in einen Astronauten ein tödliches ausserirdisches Lebewesen pflanzen.
Seit dreieinhalb Jahren beobachten wir, was herauskommt, wenn im Osten von Europa die Gesteinskrusten der Vergangenheit aufbrechen, wie uns übelriechende Substanzen, giftige Dämpfe, konservierte Monster, tiefgefroren, plötzlich zum Leben erweckt durch unvorsichtige Abenteurer, entgegenwehen, entgegenspringen. Forsch und neugierig stolperten auch unsere Leute, ohne es zu merken, auf toxisches Gelände, und jetzt haben wir, um in die Wirklichkeit zu wechseln, Krieg, ineinander wie Bestien verbissene Armeen, um die herum ein Veitstanz tobt, ein Hexensabbat der Politik, der immer mehr Menschen verrückt zu machen scheint.
Darüber schreibe ich ausführlich in dieser Ausgabe, getragen vom Wunsch, man möge die Geisterstunde endlich beenden, die Gespenster der Geschichte in ihre Grüfte treiben. Allein, meine Hoffnungen schwinden. Nach der letzten Woche stehen die Zeichen in der Ukraine wieder auf Eskalation, das blutige Ringen geht weiter, und als jemand, der sich kritisch vor allem damit zu befassen hat, wie wir hier in der Schweiz, «im Westen» mit diesem Krieg umgehen, wobei in jenem Wort schon Arroganz, ein Begleitgefühl von Überheblichkeit mitschwingt, sehe ich zu viel Selbstgerechtigkeit, Verblendung, die sich zusehends aggressiv auch gegen aussen wendet.
Wenn Staat und Medien nach Waffen, Sieg und militärischer Aufrüstung brüllen, wenn jene, die sich für Verhandlungen und Kompromisse engagieren, plötzlich als Handlanger des Bösen gelten oder als Verräter, wenn alle stramm stehen und die Deutschen auf einmal wieder der ganzen Welt erklären müssen, warum es im Osten gegen Russland kein Pardon geben darf, dann nähert sich der Punkt, an dem man sich aus Selbstschutz der Dichtung, der Musik, dem Kino zuwenden darf. Drohnenpanik in Polen und Dänemark, russische Kampfjets über Estland: Mir kommen da Nenas «99 Luftballons» in den Sinn, die wegen kriegsverrückter Generäle in die Katastrophe eines Weltkriegs führen.
Lassen wir also diese Aktualitäten beiseite, ignorieren wir auch den Lichtblick aus dem Nahen Osten, wo Trump mit seinem klugen Schachzug mächtig Friedensdruck macht auf die Hamas, vergessen wir das alles, um zu berichten, wie ich mich dabei ertappe, im Auto, bei Spaziergängen, im Flieger der sonoren Stimme des Schauspielers Reinhard Kuhnert zu lauschen, der auf wunderbar entspannende Weise die Fantasyromane des amerikanischen Schriftstellers George R.R.Martin vorliest. Dessen Werk «Game of Thrones» dürften einige dank der kongenialen Verfilmung kennen.
Mich allerdings packt die Vorgeschichte des Epos, die Chronik des Königshauses Targaryen auf dem erfundenen Kontinent Westeros, der dem Europa des späten Mittelalters entnommen scheint mit Intrige, Krieg und Adelsfehde – und feuerspeienden Drachen. «Feuer und Blut» ist die wundervolle Absurdität eines im Stil einer altertümlichen Abhandlung formulierten Sachbuchs über eine Sache, die es gar nicht gibt.
In diesem Abklingbecken grossartiger Unterhaltungsliteratur, auf diesem Drachentanz ins Reich der Fantasie, erhole ich mich vom «Game of Thrones» der Wirklichkeit. Mittlerweile zähle ich mich zu den Halbexperten, was den labyrinthischen Kosmos der «sieben Königslande» angeht. Dem Kritiker Denis Scheck ist recht zu geben, der in Autor Martin einen der grossen Märchenerzähler unserer Zeit erkennt. Möglicherweise lernen wir aus seinen Büchern mehr über die Menschen als aus faktenstarrenden Geschichtsfolianten, die nur dazu verleiten, falsche Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Ausnahmsweise, wer weiss wie lange, singe ich hier also das hohe Lied der Flucht, der Ablenkung in die Literatur
eute, legt die Zeitung beiseite, von Ausnahmen abgesehen, und widmet euch den faszinierenden Verstiegenheiten der Einbildungskraft! Daraus lernen wir immerhin, dass es mächtige Dinge gibt, Kunstwerke der Illusion, Nichtigkeiten eigentlich, die Millionen Menschen berühren, in ihren Bann ziehen und so miteinander in Verbindung bringen. Das ist nicht nichts in Zeiten kriegerischer Raserei.
R.K.