Weltwoche Kommentar 39/25

Kommentar

Tennis mit Thomas Hobbes

W

o zum Teufel bin ich hier? Eben noch sass ich im Büro. Es war Mitternacht, Geisterstunde. Ich blätterte in einer vergilbten Ausgabe des «Leviathan» von Thomas Hobbes, wohl in der Hoffnung, Denkanstösse für mein Daily aufzuspüren. Jetzt auf einmal finde ich mich in einem Gewölbe wieder, vielleicht neun Meter hoch. Der Boden ist ein Mosaik aus grauen Sandsteinplatten, rund dreissig Meter lang und halb so breit. In der Mitte erhebt sich hüfthoch ein Netz. In meiner Rechten entdecke ich einen Tennisschläger – aus Holz mit einer Darmbespannung.

«Was treibt ihr da für Schabernack, mein Herr», herrscht mich plötzlich eine Stimme an, «schreitet zum Aufschlag!» Am Boden liegen Lederbälle, mit weichem Material gefüllt, vermutlich Pferdehaar. «Ihr Schweizer», knattert die Stimme, «seid zu gar nichts zu gebrauchen.»

Vermutlich habe ich den Verstand verloren. Hirninfarkt? Aber durch den Nebel, der meinen Blick von innen her verschleiert, glaube ich einen Greis zu sehen, quick und munter, kostümiert, ein pensionierter Musketier in Pluderhosen, mit Seidenwams und Leinenhemd.

Ist das möglich? Persönlich kennengelernt habe ich ihn nie. Kein Wunder, er ist seit 1679 tot. Aber das Gesicht kommt mir bekannt vor, die fuchsigen Augen, der Kinnbart, das graue, wallende Haar. Kein Zweifel, er ist es: Thomas Hobbes, der grosse englische Philosoph des 17.Jahrhunderts, eiskalter Theoretiker des religiösen Bürgerkriegs.

Offenbar erwische ich den weltberühmten Denker, der bis ins hohe Alter Tennis spielte, bei seinem Morgenritual.

«Das Jeu de Paume», ruft er mir zu, «ist ein Sport der Taktik und des Überlebens, ein Mikrokosmos des Naturzustands. Ohne Schiedsrichter herrscht Chaos, der Krieg aller gegen alle. Ja, mein junger Freund, der Mensch ist des Menschen Wolf, homo homini lupus, wobei wir zur Ehrenrettung der Wölfe sagen müssen: Der Mensch ist schlimmer. Er mordet nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Freude und Lust. Spielen wir noch einen Satz?»

Mich erstaunt die Agilität des Alten, der mir die Bälle, flink wie Meister Yoda, nur so um die Ohren schlägt. Nach einer längeren Rallye setzt er sich neben mich auf eine Bank. Ein Diener bringt uns Milch und Tee: «Ohne Macht keine Ordnung», doziert Hobbes: «Es braucht den souveränen Staat, das Riesen-Ungeheuer, ich nenne es Leviathan. Nur dieser von Menschen geschaffene, sterbliche Gott hindert die Starken, die Schwachen umzubringen. In Furcht voreinander vereint, unterwerfen sie sich in noch grösserer Furcht dem Staat. Das ist der Urvertrag, die Grundlage des Friedens.»

«Meister Hobbes», werfe ich ein, wild entschlossen, die Gelegenheit dieses unwirklichen Zusammentreffens zu ergreifen: «Lassen Sie uns über den Wahnsinn unserer Zeiten reden.»

«Wahnsinn?», fragt der Alte vergnügt zurück, «ihr lebt im Paradies, wenn ich es an meinen Jahren messe!»

«Wir haben Krieg in der Ukraine», halte ich dagegen. «Im Nahen Osten töten sich Juden und Araber. Die grossen Reiche haben Streit, und wir Schweizer drohen in der Europäischen Union zu enden.»

Hobbes lacht laut heraus. Dann fixiert er mich mit Eulenblick. «Ach, Ihr seid ein Narr, mein Freund. Ihr lebt in den besten aller Welten und merkt es nicht einmal. Seit der Bibel bekriegen sie sich im Heiligen Land. Ihr Schweizer tut gut daran, den eigenen Staat zu pflegen. Und was die Ukraine angeht: Putin handelt wie ein Souverän, der endlich sein Revier verteidigt.»

Der Diener serviert uns Honigkuchen, frischen Tee und köstlichen Madeira-Wein.

«Was ist das Böse, Master Hobbes?»

«Der Mensch nennt gut, was ihm gefällt, und böse, was ihm nicht gefällt. Die Erfindung der Religion hat in diesem Bedürfnis ihren Ursprung. Schon immer gefiel es den Menschen, ihre Sache im Licht der Götter zu bestrahlen, sich einen höheren Komplizen zu suchen in ihrem unersättlichen Streben nach der Macht.»

«Sind Sie Pessimist, verehrter Lehrer?»

«Aus Überzeugung. Darum bin ich nie verzweifelt.»

«Finden Sie», hake ich nach, «den Einsturz der allgemeinen Ordnung, den russischen Angriff auf das Völkerrecht nicht beunruhigend?»

«Ich muss Sie korrigieren, lieber Freund. Unter den Reichen gibt es kein Recht, also kann es nicht gebrochen werden. Die Macht regiert, und Freiheit ist, wie weit man kommt. Am eigenen Leib habe ich erlebt, wenn ein schwacher Souverän die Staatsgeschäfte führt, Charles I. aus dem Hause Stuart, ein untauglicher Monarch. Anstatt seine Feinde zu zerquetschen, liess er sie gewähren, bis sie ihn, den rechtmässigen König, wie einen Verbrecher vor den Henker führten. Früher dachte ich, Putin sei Russlands Charles, zu lange traute er denen, die ihn stürzen wollen. Nein! Das Völkerrecht ist eine Lüge, Selbstbetrug, und ein gefährlicher obendrein.»

«Gefährlich? Das müssen Sie erklären.»

«Ach, Ihr seid ein Narr, mein lieber Freund. Ihr lebt doch in der besten aller Welten, ohne es zu merken.»

Hobbes lässt sich Wein nachschenken. «Habt ihr noch immer nicht verstanden, junger Freund? Diese Schlingpflanze, die ihr EU nennt, diese Gespinste legen sich wie giftiges Unkraut über den Staat. Sie schwächen ihn, saugen ihn aus, bis er keine Kraft mehr hat. Die Folge ist Anarchie, am Ende Krieg. Doch die Zeit der starken Staaten kehrt zurück. In unseren früheren Kolonien rufen sie heute: ‹America First!› Nur Europa, diese Grabstätte früherer Grösse, versinkt in Zerrüttung, weil man den Leviathan vergessen hat.»

«Zum Schluss: Welchen Rat gebt Ihr der Schweiz?»

Verschmitzt lächelt Hobbes, während er an seinem Madeira nippt. «Die Schweiz ist das Wunder eines Staates, der ohne Regierung überlebt. Solltet ihr euch einem Bunde wie diesem europäischen Verein anschliessen, so gebt ihr eure Freiheit in die Hände fremder Herren. Der gefährliche Pakt wird euren Leviathan, das Volk, in Ketten legen. Doch wahrlich: Ohne Beistand schützen auch die höchsten Berge euch nicht vor den Wölfen dieser Welt. Darum: Wählt weise, ihr Bewohner der Alpen, und haltet euch heraus aus den Kämpfen der Grossen, denn Souveränität ist kein Spiel für kleine Staaten, die sich in ihrer Schlichtheit für unbezwingbar halten.»

Seine Worte verklingen, ein kühler Hauch streift mein Gesicht. Ich blinzle, und die Szene löst sich wie im Nebel auf. Ich finde mich in meinem Büro wieder, als sei kein Augenblick vergangen. Traum oder Realität? Mein Blick fällt auf eine lange, fast unsichtbare graue Strähne, die auf meinem Schreibtisch liegt.

R.K.

Cover: Wieslaw Smetek für die Weltwoche

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen