General Dufours Lehren
ie Schweiz ist ein politisches Überlebenswunder, eine der ältesten und erfolgreichsten Selbsthilfeorganisationen der Welt. Der Kleinstaat überstand Kriege, religiöse Wirren, Invasionen, Fremdherrschaft, die Stürme der Geschichte. Er hielt zusammen, obwohl es ihn immer wieder zu zerreissen drohte. Anders aber als die Nachbarn schafften es die Schweizer, ihre Gegensätze nicht bis zur Selbstzerfleischung auszutragen. Klassenkämpfe, Bürgerkrieg, konfessionelle Auseinandersetzungen gab es wohl. Sie zerrten am Gewebe, aber sie zerfetzten es nicht. Die demokratische, unabhängige, neutrale Schweiz blieb bestehen, weil ihre Bewohner dem Kompromiss, dem Ausgleich der Interessen, der Versöhnung am Ende stets den Vorzug gaben.
Man kennt die Geste aus dem Schwingsport. Der Sieger hilft dem aufs Kreuz gelegten Verlierer wieder auf die Beine, gibt ihm die Hand und wischt ihm das Sägemehl von der verschwitzten Schulter. Nichts versinnbildlicht den nationalen Kult der grosszügigen Behandlung unterlegener Minderheiten schöner als dieses sportliche Ritual. In der Schweiz gibt es interessanterweise kaum Denkmäler, die mit historischen Grosstaten prahlen, dafür umso mehr Standbilder, in denen der Niederlage gedacht wird, so, als ob es die so vielfältigen Schweizer darauf angelegt hätten, im Wissen um den stets gefährdeten Zusammenhalt, alles zu vermeiden, was der Demütigung, damit der Spaltung, dem Unmut und der Verschärfung gesellschaftlicher Gegensätze Vorschub leisten könnte.
Die Qualität einer Gesellschaft, der Wert einer Demokratie bemisst sich daran, wie sie die Minderheiten behandelt, ihre Verlierer, diejenigen, die sich nicht an ihren Siegen freuen können. Das herausragende Beispiel und Vorbild gibt in dieser Hinsicht Guillaume Henri Dufour, berühmt geworden durch seine Rolle als erster Oberkommandierender, als siegreicher General der Schweizer Tagsatzungstruppen im Sonderbundskrieg von 1847. Dufour starb vor exakt 150Jahren, am 14.Juli 1875, im Alter von 88Jahren hochbetagt nach einem reichen Leben. Aus allen Landesteilen strömten seine Bewunderer herbei, 60000 an der Zahl, um diesem Helden der modernen Schweiz in Genf, wo heute noch ein Reiterstandbild von ihm steht, das letzte Geleit zu geben.
Dufour war ein General der Nachdenklichkeit, der Zurückhaltung, strenger Verfechter der Neutralität.
Wir wollen hier nicht über die zahllosen Verdienste des unheimlich tüchtigen Dufour als Konstrukteur, Brückenbauer, Kartograf, Festungsbauer und Politiker berichten. Interessant ist, wie dieser Sohn eines Genfer Uhrenmachers den Geist der Versöhnung, von Kompromiss und Ausgleich gerade in Kriegszeiten hochhielt und damit eine entscheidende Weiche stellte für die moderne Schweiz. Geboren in Konstanz, aufgewachsen in Genf, das 1798 an Napoleons Franzosen fiel, studierte Dufour in Paris und diente in der «Grande Armee» des Franzosenkaisers, dessen Untergang er schmerzlich miterlebte. Zurück in der Schweiz war er, zum Soldaten geboren, wie er selber schrieb, ab 1831 verantwortlich, die Schweiz im Kriegsfall zu verteidigen.
Der Ruf zu den Waffen folgte im Oktober 1847, als sich der Konflikt zwischen den Radikalen und Liberalen, die einen Bundesstaat wollten, am Widerstand des «Sonderbunds» aus Innerschweizern und Katholiken zum Bürgerkrieg entlud. Dufour wurde von der Regierung zum ersten Schweizer General ernannt. Er fügte sich widerwillig. Sein Auftrag lautete, den Sonderbund aufzulösen, den Streit unter den Eidgenossen zu beenden. Dies gelang nach einem knapp vierwöchigen Feldzug mit lediglich 98Toten und 493Verletzten. Dass es im Quervergleich dermassen unblutig ausging, lag in erster Linie an der klugen und menschlichen Kriegsführung des Generals, der mit überlegenen Verbänden und geschickter Diplomatie manch tödliche Schlacht vermied.
Sein Tagesbefehl vom 5.November 1847 gilt als Meisterwerk des militärischen Humanismus: «Soldaten! Ihr müsst aus diesem Kampf nicht nur siegreich, sondern auch ohne Tadel hervorgehen. Benehmt euch als edel denkende Krieger. Schont die Besiegten.» Diesen Grundsatz beherzigte Dufour selber, als er nach dem Sieg den Verlierern die Aufwartung machte, sie mit Grosszügigkeit behandelte und sogar einen Teil seiner Siegesprämie für die Heilung der Wunden, für die Versöhnung verschenkte. So schuf der Genfer Gelehrte und Naturwissenschaftler die Grundlage für den neuen Bundesstaat, und die Innerschweizer Bauern, seine ehemaligen Widersacher, rauchten schon bald ihre «Dufour»-Pfeifen mit dem Bildnis des Generals.
Ein «very civil war» war es in der Tat, wie ein Historiker bemerkte, doch darüber hinaus war es auch ein Lehrstück an intelligenter Friedenspolitik. Dufour war ein General der Nachdenklichkeit, ein Mann der Zurückhaltung, strenger Verfechter der Neutralität, einer, der sich zwischen Hammer und Amboss wähnte, ein Anti-Hardliner in einem Jahrhundert der Revolutionen und eines sich bereits ankündigenden militanten Nationalismus, der dann im 20.Jahrhundert explodieren sollte. Es bleibt ein Rätsel und ein Faszinosum, warum ausgerechnet die Schweiz in einer ihrer schwersten Stunden mit einer so weitsichtigen Führungskraft gesegnet wurde, so, als ob die Wahl Dufours Ausfluss einer tieferen Vernunft unserer politischen Traditionen und Institutionen gewesen wäre.
Dufours Haltung steht im scharfen Kontrast zu den Fehlern der Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg drückten die Siegermächte Deutschland mit dem Versailler Vertrag zu Boden. Die Demütigung nährte das Ressentiment – und den Aufstieg der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler, der den Hass der Besiegten auf die Sieger zum Triebwerk seiner verbrecherischen Politik hochpeitschte. Ein ähnliches Muster wiederholte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Amerikaner, am Höhepunkt ihrer unipolaren Dominanz, die unterlegenen Russen wie eine mindere «Regionalmacht» abkanzelten, die Nato gegen Proteste munter nach Osten ausdehnten, bis die Milch dermassen sauer wurde, dass es in der Ukraine knallte.
Hätten die Sieger des Ersten Weltkriegs und des Kalten Kriegs wie Dufour gehandelt, mit Augenmass und Respekt statt mit Triumphalismus und Überheblichkeit: Wir lebten heute in einer friedlicheren Welt.
R.K.
