Schweizer Eishockey-Wunder
Vor mir gab es in der Schweiz kein Eishockey.
John Slettvoll, Headcoach
des HC Lugano (1983–1994)
ut, zu hoch hängen wollen wir es nicht. Die Russen waren nicht dabei, wegboykottiert und ausgesperrt auf Grund des Ukraine-Kriegs, als ob die Sportler irgendetwas dafür könnten, wenn ihre politische Führung ein anderes Land mit Bomben bewirft. Ginge es danach, hätte man die Amerikaner schon unzählige Male aus den Wettbewerben schmeissen müssen. Und all jene, die sich jetzt zu Recht darüber aufregen, dass an einem Eurovision Song Contest der Ausschluss Israels wegen des Gaza-Kriegs gefordert wird – von ihnen haben wir nichts, kein auch nur hingehauchtes Wort der Kritik gehört, als die gleiche absurde Forderung gegen die Russen nicht nur erging, sondern auch, ruckzuck, zack, zack, kurzer Prozess, vollstreckt wurde, wegen eines Kriegs übrigens, der gegen die Zivilbevölkerung, sofern das Wort erlaubt ist, «schonungsvoller» oder sagen wir sicherheitshalber lieber: weniger zerstörerisch geführt wird als das allseitige Gemetzel im Nahen Osten.
Doch wir wollen hier zu Auffahrt keinen politischen Leitartikel über die Heuchlerei doppelter Massstäbe schreiben, sondern uns am Schweizer Eishockey erfreuen. Der Zufall will es, dass der neuerliche WM-Silbermedaillengewinn am letzten Sonntag nach einem Finalkrimi gegen die USA ausgerechnet im «Globen» von Stockholm zustande kam. So jedenfalls hiess diese Arena, als ich, junger Kufenchronist der Neuen Zürcher Zeitung, 1989 über meine erste Weltmeisterschaft berichten durfte. Die Schweiz war damals noch Lichtjahre von den Besten in der A-Gruppe entfernt, eine Liftmannschaft der zweiten Division, bei guter Tagesform durchaus aufstiegsfähig, was aber auch für die mit Italokanadiern verstärkten Italiener oder die unbequemen Polen galt. In den meisten Direktbegegnungen gegen Deutschland, die unter den weltbesten acht mithielten, zogen die «Eisgenossen» den Kürzeren. Es war die Zeit, als Bundesligahelden wie Erich Kühnhackl oder Trainer Xaver Unsinn in der Eishockey-Schweiz als Entwicklungshelfer dienten. Ich erinnere mich an einen Spengler-Cup-Match, als die Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft gegen die Düsseldorfer EG einen 6:13-Taucher einfing. Man muss es in Erinnerung rufen, um das Schweizer Eishockey-Wunder der letzten Jahrzehnte richtig einzuordnen. Damals hatten wir keinen einzigen Spieler in der «National Hockey League», der weltbesten nordamerikanischen Vereinsliga. Es gab den Davoser Jacques Soguel, den eleganten Techniker. An ihm haben die NHL Scouts geschnuppert, doch wirklich verpflichtet wurde er nie. Die Brunners, Streits, Niederreiters, Josis, Hischiers, Meiers und wie sie alle heissen, kamen erst Jahrzehnte später. An der Stockholmer WM von 1989 sah ich die legendären Sowjets einlaufen, Fetisow, Kassatonow, Larionow et cetera, der Superblock, das Bolschoi-Ballett des Eishockeys, vom Trainer-Reptil Wiktor Tichonow in ewiger Kasernenhaltung abgerichtet zum tödlich perfekten Spiel. Bei den Kanadiern wirkten Superstars wie Mark Messier, die pfeilschnelle Stürmernummer 11 der New York Rangers. Die Schweden waren stark, ebenso die Finnen. Auch gab es noch die Tschechoslowakei, Stockzauberer auch sie, Ostblock-gestählt, doch den Russen in leistungstreibender Feindschaft verbunden, manchmal sogar siegreich.
Nein, die Schweiz hätte damals von einer WM-Medaille nicht mal träumen können. Ein Nationaltrainer, der ein solches Ziel ausgegeben hätte, wäre vor Turnierbeginn in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Doch die Zeiten haben sich geändert, dramatisch, und nicht etwa deshalb, weil das Welt-Eishockey nach dem Zusammenbruch des Ostens dahingesunken wäre. Im Gegenteil. Noch nie waren die Spieler härter und schneller als heute. In Nordamerika locken die Millionen und eine unerbittliche Konkurrenz. Zwar sind die Russen nicht mehr so stark wie einst ihre Rote Eis-Armee, doch das wesentliche Faktum ist nicht der Niedergang der anderen, sondern der Aufstieg der Schweiz. Man sah es an den Gesichtern am letzten Sonntagabend. Tieftraurig nahmen die Schweizer nach dem hauchdünnen Verlängerungs-0:1 gegen starke Amerikaner ihre mittlerweile vierte WM-Silbermedaille in Empfang. Offensichtlich war mit einem Sieg gerechnet worden. Und so sehr die Enttäuschung verständlich ist, wenn man oft so nahe dran war: Der neuerliche Exploit der Mannschaft von Trainer Patrick Fischer, dem asketischen Leistungsmönch an der Bande, bestätigt eine sportliche Erfolgsgeschichte, die unser Land auch insgesamt auszeichnet.
Anders als etwa im Fussball mit seiner balkanisch-afrikanischen Befruchtung sind die besten Schweizer Eishockeyspieler nicht das Resultat früherer Migrationswellen von Familien aus kufennahen Zivilisationen, Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie sind das Ergebnis eines unternehmerisch betriebenen Eigenaufbaus in den Vereinen. Lugano, Bern, Kloten und dann vor allem Davos haben die Grundlagen gelegt. Heute aber ist zu nennen wohl an erster Stelle der Zürcher Schlittschuh-Club (ZSC), die Kraft und Dampfzentrale des Schweizer Eishockeys. Es stimmt zwar, dass der langjährige Vereinspatron Walter Frey, hocherfolgreicher Gentleman Unternehmer alter Schule, gelegentlich tief ins Portemonnaie greift, um die Ambitionen seiner Sportchefs zu verwirklichen. Doch Geld allein macht auch im Eishockey nicht glücklich. Freys Klasseleistung beim ZSC besteht darin, dass er den einstigen Fieberkurven-Klub in einer hohen Umlaufbahn stabilisierte, mit einer professionellen Organisation auf der kerngesunden Basis einer auch geografisch breit ausgefächerten Nachwuchsförderung.
Noch nie haben so viele Schweizer Eishockeyaner in der nordamerikanischen Profiliga gespielt. Sie sind dort keine Mitläufer, sondern Exportschlager «Made in Switzerland». Dass man ihre Nachnamen auf Anhieb aussprechen kann, macht deutlich, dass Schweizer Qualität durchaus hausgemacht sein kann und nicht nur importiert werden muss, wie Multikulti-Enthusiasten predigen. Klar, es ist auch eine Frage, wenn auch nicht nur, des Geldes, und viele Klubs leiden am kostentreibenden Leistungsdruck. So ist das Schweizer Eishockey eben – und warum auch nicht? – Symptom und Ausdruck des immer wieder staunenswerten, stets durch politischen Leichtsinn bedrohten wirtschaftlichen Erfolgs unseres Landes, der harten unternehmerischen Arbeit, die, Lohn des selbstgeschaffenen Überflusses, für einmal auch im Sport, der schönsten Nebensache, Früchte trägt.
R.K.