Weltwoche Kommentar 8/24

Kommentar

Traue keinem

I

n einem interessanten Gespräch mit den Kollegen vom Magazin des Tages-Anzeigers formuliert der deutsche Regisseur Werner Herzog das ewige Gebot der Stunde: «Traut niemandem.» Der bedeutende Filmemacher, einer der grossen Künstler unserer Zeit, rät den Lesern, die «offiziellen Erzählungen von Gut und Böse» nicht zu glauben. Man kann ihm nur zustimmen.

Eigentlich wäre es eine Selbstverständlichkeit vor allem in der Demokratie, nichts zu glauben, alles zu hinterfragen, erst recht dann, wenn alle oder viele, die meisten Medien und weite Teile der Öffentlichkeit es ständig herunterbeten. Offenbar muss man heute, da der Zweifel nicht mehr selbstverständlich ist, ja unter Verdacht steht, mit Werner Herzog wieder an das Selbstverständliche erinnern.

Das Denken in kristallklaren Hollywood-Schablonen, wir die Guten, dort die Bösen, hat etwas Verführerisches. Fast nichts ist erhebender als das Gefühl, an der Seite der Guten gegen das Böse zu stehen. Jeder Mensch dürstet nach Rechtfertigung, will seine Taten, sein Leben, sich selbst gerechtfertigt sehen im Lichte höchster Ideale. Wer andere verteufelt, spürt bei sich selber automatisch die Engelsflügel wachsen.

Das ist ganz ausgeprägt der Fall, seit die Russen in der Ukraine einmarschierten, um in einen seit Jahren schwelenden Bürgerkrieg einzugreifen, dem bis dahin rund 14 000 vorwiegend russischsprachige Ukrainer zum Opfer gefallen waren. Schlagartig setzten auch bei uns Denkverbote und Sprachvorschriften ein. Jeder, der auch nur den Hauch eines Zweifels anmeldete, sah sich hassdumpf angeprangert als Diener des Bösen.

Es geht hier nicht nur um die übliche räsonierende Begleitmusik politischer Ereignisse. Die Pose selbstgefälliger Einseitigkeit kränkelt längst die Politik an, treibt sie in eine falsche Richtung. Eine Hauptschuld trifft die Journalisten. Sie haben kolossal versagt, eine offene Diskussion auch über den Ukraine-Krieg zu gewährleisten. Nur so konnte sich die Politik ermächtigt, ja aufgerufen fühlen, die Schweizer Neutralität zu ritzen.

Die Schweiz ist seit zwei Jahren im Krieg gegen die Atommacht Russland. Sie hat eine von Beginn weg irrige Strategie mitgemacht, deren Scheitern immer deutlicher wird. Man ging davon aus, die Wirtschaftssanktionen würden Russland militärisch lähmen. Das Gegenteil ist der Fall. Russlands Wirtschaft wächst und produziert heute mehr Munition als der gesamte Westen. Soeben fiel der wichtige ukrainische Stützpunkt Awdijiwka.

Ich habe den Eindruck, unsere Medien, Partei gegen Russland, spielen die Niederlagen Selenskyjs herunter. Umso mehr sollte die Schweiz aussteigen aus diesem Krieg, die Sanktionen beenden und zurückkehren zur Neutralität. Dies wäre keine, wie es heisst, «Kapitulation vor dem Aggressor», sondern für einen Kleinstaat die einzig vernünftige Politik. Nur eine neutrale Schweiz kann, wenn überhaupt, zum Frieden beitragen.

Doch anstatt das Offensichtliche einzusehen, scheinen unsere grossen Verlagshäuser wild entschlossen, die Schweiz in einen Zustand geistiger Totalmobilmachung hineinzuhypnotisieren. In der NZZ am Sonntag las ich kürzlich das Pamphlet eines ehemaligen Botschafters, der die Welt am Rande eines fast notwendig erscheinenden Weltkriegs gegen «die Diktatoren» sieht und Putin im Begriff, «ganz Europa zu besetzen».

Gratismutige Parolen dieser Art gehören heute zum guten Ton, doch selbstverständlich melden unsere Schreibtischgeneräle, die so gerne Churchill zitieren, nicht sich oder ihre Söhne zum freiwilligen Fronteinsatz. Das dann doch nicht. Für die angeblich bedrohte «Freiheit des Westens» dürfen ausschliesslich die zynisch verheizten ­Ukrainer sterben. Selenskyj kritisiert die westliche Verlogenheit zu Recht.

Wann hat Europa, wann hat die Schweiz den Mut, diesen Irrsinn abzublasen? Die Ukraine kann aus eigener Kraft militärisch nicht gewinnen. Die Amerikaner, Anführer des Westens, müssten jetzt entweder aufhören wie in Vietnam und in Afghanistan oder aber voll einsteigen wie im Zweiten Weltkrieg. Sie werden wohl wie bisher halbherzig Waffen liefern und grosse Reden schwingen, während die Ukraine allmählich verblutet.

Derweil trommeln unsere Medien und viele Politiker, sturzbetroffen, noch einmal zur Endschlacht gegen den mutmasslichen Teufel in Moskau. Jüngster Auslöser ist der Tod des russischen Aktivisten Alexei Nawalny in einem sibirischen Straflager. Obwohl man nichts Genaues weiss, sind sich die Moralgerichte in ihrer Schuldvermutung bombensicher. Hass soll entflammt, die Kriegsentschlossenheit befeuert werden.

Einmal mehr irritiert in diesem Fall der selektive Einsatz des Gewissens. Die westlichen Moralpredigten wären überzeugender, gälten die strengen Massstäbe nach allen Seiten. Auch die Amerikaner betreiben Straflager, Guantánamo, in denen Häftlinge gefoltert wurden. Und als der amerikanische Journalist und Selenskyj-Kritiker Gonzalo Lira kürzlich in ukrainischer Gefangenschaft verstarb, blieb es im Westen ohrenbetäubend still.

Es ist halt einfacher, den Splitter im Auge des Gegners zu sehen als den Balken vor dem eigenen Kopf. Ob die endlosen Verfahren gegen den Enthüllungsjournalisten Julian Assange rechtsstaatlich sauber oder politisch motiviert sind, ist eine berechtigte Frage. Vielleicht auch wird der Australier, der US-Kriegsverbrechen aufdeckte, von seinen Anhängern politisch ähnlich überhöht wie der zum Märtyrer stilisierte Nawalny.

Bilden wir uns bloss nicht ein, Propaganda gebe es nur bei den «Bösen». Die Schweiz hat ihre Neutralität aufgegeben. Auch sie ist Kriegspartei. Das macht sie empfänglich für die nützlichen «Erzählungen von Gut und Böse». Aber vor allem macht es sie taub für Widerspruch und Zweifel. Halten wird uns raus aus diesem Krieg. Seien wir misstrauisch. Kehren wir zurück zur schweizerischen Neutralität.

R.K.

Cover: Mikhail Tereshchenko/Sputnik/AFP/Getty Images

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