Weltwoche Kommentar 8/22

Kommentar

Putins Rache der Geschichte

W

enn es eine Lektion gibt, die wir aus der grauenvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen können, dann ist es die: Es kommt nie gut heraus, wenn man ein Land demütigt, seine Schwäche ausnützt. Unweigerlich, früher oder später, rächt sich das. Die Gedemütigten schlagen zurück, holen sich wieder, was man ihnen genommen hat.

Nach dem Ersten Weltkrieg drückten die Siegermächte die Deutschen auf den Boden. Man schob ihnen die alleinige Kriegsschuld zu. Man verlangte monströse Reparationen. Man zwackte dem besiegten Reich erhebliche Gebiete ab. So legte der «Frieden» von Versailles den Boden für den nächsten Krieg. Den Intelligenten war klar, dass Deutschland das nie akzeptieren würde.

Ähnlich lief es nach dem Ende des Kalten Kriegs mit Russland. Die Sowjetunion krachte zusammen. Der Westen wurde übermütig. Man dehnte die eigene Sphäre leichtsinnig in einst russisch dominierte Zonen aus. Ob es Versprechen gab, die gebrochen wurden, ist unerheblich. Die Westler gaben den Russen zu verstehen: Ihr seid nur noch eine zweitklassige Macht, «arrangez-vous»

Völker aber haben ihren Stolz, einstige Supermächte erst recht. Es war naiv, zu glauben, dass der geschwächte russische Staatskoloss mit seinen elf Zeitzonen die Herabsetzung einfach kopfnickend hinnehmen würde. Den Bruchpunkt brachten die westlichen Einmischungen in die Ukraine, der man einen Nato- und einen EU-Beitritt in Aussicht stellte. Hybris pur. Putin, erstarkt, begann zurückzuschlagen.

Politik menschelt, es geht um Interessen, um Gefühle. Die Lava der Emotionen peitscht hoch. Unter Grossmächten spielen Einflusssphären eine wichtige Rolle. Die Amerikaner dulden keine Einmischung in ihren Vorhöfen, die sie fast weltweit beanspruchen. Die Chinesen sichern das vorgelagerte Meer. Unter Millionenopfern erkämpften die Russen nach Westen ihren Sicherheitsgürtel, eine Pufferzone.

Wir sollten uns hüten, Realpolitik durch die Moralismusbrille zu betrachten. Unsere Medien stellen Putin als Schwerverbrecher hin. Er wirkt eher wie ein eiskalt kalkulierender Politiker, der die nationalen Interessen seines Landes zu verteidigen versucht. Dazu gehört, aus russischer Sicht, die Abwehr von potenziellen Nato-Atomraketen im eigenen Vorgarten, in der Ukraine.

Geschichte ist wichtig. Der Westen empört sich über die russische Wiederaneignung der Krim. Sie war eine direkte Folge des westlichen Ausgreifens nach Kiew. Zwischen der Ukraine und Russland herrschen jahrhundertealte Intimbeziehungen. Wo das eine Land anfängt und das andere aufhört, war nicht immer so klar, jedenfalls umstritten. Innenpolitik und Aussenpolitik wirbeln heillos ineinander.

Es kommt nie gut heraus, wenn man ein Land demütigt, seine Schwäche ausnützt.

Der Westen hat sich angewöhnt, die Welt zu regieren. Dazu war er einst in der Lage. Geblieben ist die Pose. Die Schwächen werden derzeit erschreckend deutlich. Putin taktiert geschickt. Im Unterschied zum Westen hat er eine Strategie: Seine Militärmacht dient der Abschreckung wohl eher als der Eroberung. Botschaft: Bis hierhin und nicht weiter.

Putin ist weder ein Hitler noch ein Napoleon. Er will den Kontinent nicht mit seiner Ideologie plattwalzen. Er ist ein klassischer Nationalist, der sich an der Grösse des historischen Russlands orientiert. Die Konflikte mit dem dysfunktionalen, korrupten Kunst-Staat Ukraine sind Spätfolgen des sowjetischen Zusammenbruchs. Europa hat kein Interesse, deshalb gegen Russland in den Krieg zu ziehen.

Zum nationalen Interesse des christlichen Russland gehört aber auch: Wir wollen, wir brauchen die Zusammenarbeit mit dem Westen. Der russische Doppeladler, ein gefährliches Tier, schaut in zwei Richtungen. Russlands Landhunger so gross wie seine Unfähigkeit, sich selber industriell zu entwickeln. Putin benötigt gute Beziehungen zum Westen, aber auf Augenhöhe, nicht von unten.

Der Kalte Krieg ist zurück. Er trübt den Blick und verleitet zu falschen Schlüssen. Die an den Olympischen Spielen inszenierte Allianz zwischen Russland und China ist taktisch, nicht strategisch. Die Russen sehen sich als Europäer, nicht als Asiaten. Der arrogante Westen hat die Russen in die Arme Chinas getrieben. Natürlich nutzt Putin diesen Zweckverbund, um seine Macht zu festigen.

Wir Schweizer sind allergisch gegen Macht. Grossmächten misstrauen wir von Herzen – ganz egal, ob sie in ihren Wappen mit Sternen glänzen oder mit Raubtieren drohen. Aber wir bilden uns nicht ein, den Grossmächten unsere Interessen und unsere Vorstellungen aufzwingen zu können. Deshalb sind wir Schweizer neutral. Wir sind friedlich und halten uns raus aus den Konflikten der andern.

Das hat sich bewährt und ist immer noch richtig, aber im Kalten Krieg steigt der Druck, sich auf eine Seite zu schlagen. Wie immer lässt sich die Politik schneller mitreissen als das Volk. Bundesbern ist bereit, die Neutralität zu opfern. Bundesrat und Parlament drängen in den Uno-Sicherheitsrat. Unser Kleinstaat soll am Tisch der Grossmächte mitentscheiden über Frieden und Krieg.

Wahnsinn. Grössenwahnsinn.

Die Neutralität der Schweiz wäre damit Geschichte. Wir müssten Partei ergreifen. Jetzt zum Beispiel unter Druck der Amerikaner und der EU gegen die Russen. Die Schweiz wäre gezwungen, wirtschaftliche Sanktionen mitzumachen, als Teil des westlichen Bündnisses im Wirtschaftskrieg. Vielleicht öffnet der Konflikt um die Ukraine den Blinden von Bern die Augen.

E

s gibt nichts Neues unter der Sonne. Schon Napoleon zwang die Schweiz unter die Knute seiner Grossmachtpolitik. Wir waren gezwungen, seine Wirtschaftsblockade gegen England mitzumachen. Es folgte ein Nahtoderlebnis bitterster Armut für die Eidgenossenschaft. Leider haben Politiker ein kurzes Gedächtnis. Übermut ist Trumpf, aber Geschichte ist lehrreich. Noch ist es nicht zu spät.

R.K.

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