Weltwoche Kommentar 6/24

Kommentar

Schweizer, verteidigt eure Demokratie

Magdeburg
D

ie Schweiz ist ein Wunder. Einen demokratischeren Staat gibt es nicht. Der grosse Basler Historiker Jacob Burckhardt bewunderte die Schweiz. Sie war für ihn ein Staat, in dem der Bürger noch Bürger im «umfassenden Sinn des Wortes» sei. Tatsächlich gibt es kein Land, in dem die Bürger mehr zu sagen haben. Und auf den ersten Blick ist es ja erstaunlich: Ihre Staatssäulen stellen Volksrechte, Freiheit und Eigenverantwortung ins Zentrum. Damit ist die Schweiz hervorragend gefahren, hat sie mit Erfolg navigiert durch die Stürme und Shitstorms der Geschichte. Trotzdem ist sie ein weltweit einzigartiger Sonderfall geblieben. Niemand will oder kann das Erfolgsmodell kopieren. Warum eigentlich nicht, wo es doch nachweislich so gut funktioniert?

Nur bei oberflächlicher Betrachtung überrascht die Diagnose. Die Schweiz ist das Gegenteil eines Machtstaats. Ihre Staatsform ist eine Zumutung für jeden Politiker, denn sie setzt ihn dem gnadenlosen Misstrauen der Bürger aus. In keinem anderen Land haben die Politiker weniger und die Bürger mehr zu sagen. Das ist der Grund, warum die meisten Schweizer Politiker, wenn sie tief genug in den Spiegel schauen, erkennen, dass sie unsere Institutionen der Machtzertrümmerung – direkte Demokratie, Kantönligeist, Gemeindeautonomie und Föderalismus, immerwährende, bewaffnete, umfassende Neutralität – im Grunde als Belästigung empfinden, als einen institutionalisierten Störfall, als beleidigende Vereitelung und Behinderung ihres Wirkens, das sich in anderen Staatsformen weit freier entfalten könnte.

Nichts ist weniger selbstverständlich als unsere Freiheit, die Freiheit von uns Schweizern, und niemand bedroht sie mehr als die von uns direkt oder indirekt gewählten Politiker, obwohl sie diesen Befund natürlich auf das Entschiedenste und wohl auch auf das Empörteste zurückweisen würden, was nur umso klarer belegt, dass es stimmt. Täglich arbeiten sie in Bern daran, Parteien, Verwaltung, Richter, die Macht des Volkes zurückzudrängen, zu relativieren, zu beschneiden, um dadurch die eigene Macht automatisch zu vergrössern. Jede auch noch so abwegige Chance und Gelegenheit packen sie, um ihrem Ziel näherzukommen, die einzigartigen Volksrechte aus Eigennutz zurückzubinden. Mit Corona und dem Klima sind sie erst recht auf den Geschmack gekommen. Jetzt machen sie weiter. Es sei denn, der Bürger hindert sie daran.

Keineswegs behaupte ich, hier läge nur böser Wille vor, ein finsteres Machtstreben, wie es in der Geschichte so viel Unheil angerichtet hat. Das mag es in Einzelfällen geben, niemand ist heilig oder perfekt, es sind alles nur Menschen, aber aus meiner Sicht hat es mit den Eigengesetzlichkeiten, mit der inneren Wachstumsdynamik des Staates zu tun, des grössten Monopols in einem jeden Land. Dessen Sachwalter und Profiteure werden zu Prothesen, zu ausführenden Agenten eines Apparats der Macht, den sie doch eigentlich hemmen, dämmen und einhegen sollten. Unter die Räder kommen die Bürger, kommt die Freiheit, kommen schliesslich Wohlstand und Wohlergehen des ganzen Landes. Beispiele finden sich zuhauf.

Die EU ist ein Gebilde zur Selbstverwirklichung von Politikern.

Seit Jahren versucht eine Mehrheit der Parteien, um, wie es heisst, den wirtschaftlichen Fortbestand der Schweiz zu sichern, unser Land den Institutionen der Europäischen Union zu unterwerfen. Obwohl das Volk keinen EU-Beitritt will, weder einen offenen noch einen verdeckten, ist man dabei, unserer Schweiz einen unwürdigen Kolonialvertrag aufzuschwatzen. Am Nasenring will man uns nach Brüssel führen. Warum machen die Politiker da mit, obwohl sie in allen Sonntags- und Erstaugustreden so eloquent die institutionellen Segnungen preisen, die sie im Alltag nicht müde werden wegzusäbeln? Es ist einfach: Es geht um die Macht. In der EU haben die Politiker sehr viel zu sagen, die Bürger dafür umso weniger. Die EU ist ein Gebilde zur Selbstverwirklichung von Politikern, die sich der engmaschigen Aufsicht zu Hause entziehen möchten. Das gelingt auch, weil «in der EU alle für alles verantwortlich sind und niemand für etwas» (Christoph Blocher).

Man muss gar nicht so weit suchen. Politiker pflegen ihre Macht. Die Schweiz mit ihren «checks and balances», mit ihren weltweit stärksten, einzigartigen Volksrechten hindert sie daran. Diesem Joch wollen sich die meisten Politiker entwinden. Das ist der tiefere Grund, warum sie jetzt den Einmarsch der Russen in der Ukraine benützen, um die schweizerische Neutralität zurückzufahren. Aus ihren Zielen machen sie kein Hehl: Unsere Regierung brauche «mehr Flexibilität», behaupten sie, sie müsse doch angesichts angeblich neuer militärischer Drohungen ungehinderter, freier handeln können. Die Neutralität sei da nur eine lästige Fussbinde, ein alter Zopf, der Regierung im Weg stehend. Durch den Rückbau der Neutralität sollen die Regierenden – und damit auch das Parlament – mehr Handlungsfreiheit bekommen, mehr Macht.

Dabei liegt ja der eigentliche Sinn unserer Neutralität gerade darin, die Macht der Regierung zu bremsen, ihr Hindernisse und Hürden in den Weg zu stellen, damit sie die Schweiz nicht aus Leichtsinn oder Grössenwahn in fremde Kriege stürzt. Doch viele, zu viele Politiker wollen die politische Schweiz, also sich selber, auf der grossen internationalen Bühne sehen, im Glitzerlicht der Scheinwerfer. Man will jemand sein, Bedeutung haben, eine Rolle spielen. Anstatt das durchsichtige egozentrische Theater zu entlarven, fahren unsere Medien, im Tross, im Schlepptau der Wichtigtuer, auf die unschweizerischen Machtallüren ab. Man biegt sich die Neutralität zurecht nach dem Muster: Früher sei sie wichtig gewesen, heute aber überholt. Als im Zweiten Weltkrieg der Feind an unserer Landesgrenze stand, habe die Schweiz neutral sein müssen. Tobe ein Krieg aber weit entfernt, dürfe die Schweiz mitmachen, mit Sanktionen und/oder der Lieferung von Waffen. So argumentieren die Schlaumeier, allen voran die NZZ.

S

chweizer, nehmt euch in Acht. Die Freiheitsräuber sind unter uns. Sie sprechen mit Engelszungen, verbergen ihre Machtgier unter einem Zuckerguss von süssen Worten. Wenn sie Demokratie sagen, meinen sie sich selbst. Wachsamkeit, Widerstand ist Pflicht. R. K.

R.K.

Cover: Kunstpalast – Artothek

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