Weltwoche Kommentar 6/23

Kommentar

Wahrheitsbesitzer gegen Wahrheitssucher

Der Drang, die Menschheit zu retten, ist fast immer
eine falsche Fassade für den Drang zu herrschen.

Henry L. Mencken (1880–1956)
E

s gibt zwei Arten von Menschen: die Wahrheitsbesitzer und die Wahrheitssucher, die Bescheidwisser und die Zweifler. Die Wahrheitsbesitzer sind gefährlich. Sie glauben an die eigene Unfehlbarkeit. Sie halten jeden, der widerspricht, für dumm oder für böse. Meistens für beides. Wahrheitsbesitzer sind der Untergang jeder Kultur, jeder Zivilisation. Wenn die Wahrheitsbesitzer das Kommando übernehmen, drohen die Tyrannei, die Zerstörung der Werte. Wahrheitsbesitzer sind Lügner, weil der Mensch irrt, seinen Einbildungen erliegt, die Wahrheit niemals besitzen kann.

Wahrheitsbesitzer sind die grösste Plage der Menschheit. Nie sterben sie aus, immer kommen sie wieder. Sie bedienten die Folterwerkzeuge der Inquisition, schichteten Scheiterhaufen auf, verbrannten Ketzer und Hexen, bauten Gulags und Konzentrationslager. Immer auf der Lauer, warten sie darauf, ihr Regime aufzuziehen. Stets geben sie sich als Verbündete des Guten aus, als Gralshüter des Göttlichen, dessen, was uns das Höchste ist. Doch die Wahrheitsbesitzer sind nicht die Guten, sie sind die Bösen, weil sie das Gute nur missbrauchen, um zu herrschen.

Wahrheitsbesitzer wollen keine Probleme lösen, sie wollen die Menschheit retten, den Planeten, das Klima. Wahrheitsbesitzer gehen aufs Ganze. Sie sind verliebt in Abstraktionen. Ihr Lieblingswort heisst «Menschheit». Für den einzelnen Menschen haben sie nichts übrig, er muss betreut, beherrscht, kontrolliert, am freien Reden und Denken gehindert, zum Guten geprügelt werden. Nichts trauen die Wahrheitsbesitzer dem Einzelnen zu, sich selber und der Menschheit aber alles. Was sich ihrer Herrschaft widersetzt, bekämpfen sie.

Wahrheitsbesitzer stellen Moral über Recht, Wahrheit über Mehrheit, das Dogma über die Demokratie. Sie sind nicht bereit, die freie Entscheidung der Wähler zu akzeptieren. Wahrheitsbesitzer brauchen Feinde, Teufel, ihr Instrument ist die Angst, ihre Methode die Einschüchterung. Sie sind nicht bereit, Gespräche zu führen, Argumente zu prüfen und zu widerlegen. Sie unterbinden, verbieten, unterdrücken, «canceln». Sie behaupten, es dürfe nur noch eine Meinung geben, ihre eigene. «Alternativlos» nennen sie ihre Sicht.

Keine anderen Götter dulden sie neben sich. Sie haben Gott für tot erklärt, um sich auf seinen Thron zu setzen.

Die Tyrannei der Wahrheitsbesitzer kommt auf Engelszungen, sich selber verleugnend, die Leute umsäuselnd, schmeichelnd, blendend. Die Despoten der Wahrheit marschieren nicht in Uniform, sie sprechen leise und verständnisvoll, geben vor, es gut zu meinen. Ihre Macht ist die Schwäche ihrer Opfer. Menschen sind unsicher, haben ein schlechtes Gewissen, sehnen sich nach Rechtfertigung, suchen Halt im Sinn. Wahrheitsbesitzer reden von Gott und meinen sich selber. Keine anderen Götter dulden sie neben sich. Sie haben Gott für tot erklärt, um sich auf seinen Thron zu setzen.

Hütet euch vor den Wahrheitsbesitzern. Ihre Verführungskraft ist gross. Alle Menschen sind verführbar. Ihr Gift ist so süss, dass jeder ihm verfallen kann. Es sind Betrüger, geschniegelte, salonfähige, geschmeidig unterwegs auf den oberen Etagen. Sie verseuchen und zerstören alles, was sie in die Finger kriegen. Sie verdrehen die Worte, pervertieren die Werte, höhlen Institutionen aus, errichten Altäre, Götzen, falsche Heilige, denen gehuldigt werden soll. Sie stürzen die Welt in Konflikte, in endlose Kriege, nicht selten ehrlich überzeugt, verblendet, das Gute zu betreiben.

Nichts hassen die Wahrheitsbesitzer mehr als Freiheit und Vielfalt. Das Durcheinander der Demokratie ist ihnen zuwider. Ihr Hauptfeind ist die Wirklichkeit. Sie ersetzen sie durch Kulissen, durch Konstrukte und Behauptungen, die niemand hinterfragen darf. Das ist ihre grösste Schwäche. Hinter ihrer Wahrheit steht nichts, ausser einer Pose, ausser Zwang und Konvention, ausser der gebieterischen Allüre, deren Macht nicht aus Fakten und Argumenten kommt, sondern aus Drohungen, aus Intoleranz, am Ende aus Gewalt.

Das ist der Grund, warum sich die Wahrheitsbesitzer niemals durchsetzen, aber sehr viel Schaden anrichten. Die Weltgeschichte ist voller Beispiele. Sie liefert ständig neue. Am schlimmsten wüten Wahrheitseigentümer dort, wo der Selbstbetrug am grössten ist, wo man sich seiner Sache am sichersten und Zweifel verboten ist. Nichts ist gefährlicher als eine Gruppe von Menschen, die von der Richtigkeit ihres Anliegens restlos überzeugt sind. Das ist der Punkt, wo Verständigung verpönt und «verstehen» ein Schimpfwort ist. Wahrheitsbesitzer verschleiern ihre Diktatur, indem sie überall Diktaturen sehen, ausser bei sich selbst. Despoten brauchen andere Despoten, um ihre eigene Despotie zu verschleiern, während sie sie errichten. Täuschung und Selbstbetrug gehen Hand in Hand. Demokratien sind besonders gefährdet, weil demokratische Regierungen und Politiker auch dann noch von Demokratie reden, wenn sie dabei sind, ihre Demokratie zu beerdigen.

Selbstgerechtigkeit, moralische Überheblichkeit, der Glaube an die Unfehlbarkeit des eigenen Standpunkts, «Cancel-Culture» und politische Korrektheit: Das ist der Nährboden, auf dem die Wahrheitsbesitzer florieren. Im Westen, in den USA, in Europa, Deutschland, aber auch in der Schweiz erleben sie gerade wieder eine Blütezeit. Ihre wichtigsten Helfer waren früher die Kirchen, sind heute die Medien, die Journalisten, die der Einfalt unter dem Vorwand, «Fake News» und «Desinformation» zu bekämpfen, Vorschub leisten.

Die Macht der Wahrheitsbesitzer sind unsere Gleichgültigkeit, unsere Feigheit. Solange niemand aufsteht, verbreiten sie ihr Unheil. Je früher man sie stoppt, desto besser. Tröstlich: Nicht der Besitz, das stete Streben, die unvollendete Suche nach der Wahrheit macht den Menschen aus. Vorübergehend kann es den Wahrheitsbesitzern gelingen, die Wahrheitssucher, die Zweifler in den Schatten, ins Zwielicht zu stellen. Wahrheitsbesitzer verkaufen die Droge falscher Gewissheit. Aber die Menschen sind nicht dumm. Früher oder später durchschauen sie den faulen Zauber.

R.K.

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