Weltwoche Kommentar 51/22

Kommentar

Katar öffnet unsere Herzen

Doha
V

or mir umarmen sich ein Araber, der für die Argentinier ist, und der fanatische Franzose, der beim 2:2 seiner Mannschaft beim Jubeln derart die Hemmungen verliert, dass er mir beinahe seine triumphierenden Fäuste in die Brust rammt. Was heisst umarmen? Sie liegen sich in den Armen, der Franzose, ausser sich vor Glück, und der in Weiss gekleidete Araber, dezenter Messi-Fan (er erhebt sich elegant von seinem Sitz, wann immer sich die Nummer 10 dem französischen Strafraum nähert). Beide lachen, Freude, Leidenschaft, aber auch Erstaunen, dass man sich, kurz vor Ende der regulären Spielzeit, so nahe kommt. Ein Zusammenprall der Zivilisationen, aber einer, der sich in einem spontanen Urknall wechselseitiger Zuneigung, ja fast schon Liebe entlädt. Fussball überwindet, sprengt fast alle Grenzen.

Es ist für mich das Sinnbild dieser Weltmeisterschaft, die in einer argentinischen Ekstase endet, nach einem Fieberfinalspiel, wie mir regelmässige WM-Besucher versichern, dass es in dieser Form so noch nie gegeben habe. Drama, Kampf, Wundertechnik, viele Tore, umrahmt von fast 90 000 Zuschauern in einem Stadion, wo vor nicht allzu langer Zeit noch Wüste war. Keine Gewalt, keine betrunkenen Hooligans. Wann gab es das zum letzten Mal: eine Fussball- WM ohne einen einzigen verhafteten Engländer? Dabei waren die Mannschaften nicht wie üblich übers ganze Land verteilt mit Stadien, abgeriegelt wie militärische Sperrzonen. In Katar ereignete sich das Wunder der friedlichen Koexistenz auf engem Raum. Alles passierte in einer einzigen Stadt, acht Stadien innerhalb von 68 Kilometern. Nur Fussball, der erste Kuss, Sex oder die Geburt der eigenen Kinder können Menschen auf diese Art zusammenbringen.

Auf dem Rückflug nach Zürich unterhalte ich mich mit dem Cousin von Fifa-Präsident Gianni Infantino. Er erzählt mir die Geschichte seiner Familie, Italiener aus Kalabrien, tiefster Süden, der Grossvater suchte Schutz vor dem Krieg und flüchtete ins Wallis, nach Brig. Kaum herrschte Frieden, wurde er von den Behörden angewiesen, sich entweder einzubürgern oder auszuwandern. Der Grossvater, stolzer Patriot, ging wieder nach Italien. Doch zwei seiner Kinder beschlossen später, in ihre Wahlheimat Schweiz zurückzukehren. Giannis Vater begann, noch keine zwanzig, als Tellerwäscher im Bahnhofbuffet von Brig, Sohn Gianni schaffte ein Ius-Studium in Freiburg und organisiert heute, umschwirrt und umgarnt von den Reichen und Mächtigen, die bedeutendste Sportveranstaltung der Welt.

Schon in Brig habe Gianni als Jugendlicher «Grümpelturniere» organisiert, erzählt der Cousin. Das Stichwort passt. Jedes Grümpelturnier braucht ein Organisationskomitee (OK) und einen Leiter (Präsidenten). Das OK sorgt für einen regulären Spielbetrieb, sichert die Plätze, verpflichtet Schiedsrichter. Für Zuschauer und Spieler muss Verpflegung besorgt werden. Der OK-Chef ruft den örtlichen Elektriker an oder, sofern vorhanden, eine Bankfiliale, um ein paar Batzen Zustupf in Form von Werbung zur Deckung der Unkosten zu bekommen. Nichts anderes ist eine WM, ist die Fifa, das Organisationskomitee, das als mittlerweile gigantisch erfolgreiches Unternehmen stets allerlei Verführungen ausgesetzt ist. Infantinos Vorgänger Sepp Blatter hat die Fifa in höchste Umlaufbahnen des Erfolgs katapultiert und in die Schweiz gebracht. Gianni Infantino könnte der Mann sein, der die Fifa auf den Boden zurückholt, als das, was sie ihrem Wesen nach ist: das OK des grössten Fussball- Grümpelturniers der Welt.

Neben dem argentinischen Zauberspieler Lionel Messi heissen die grossen Gewinner dieser WM Gianni Infantino und Katar. Viel Prügel einstecken musste der Schweizer Fifa-Präsident. Dabei war seine ungeplante Wutrede zu Turnierbeginn ein Volltreffer. Mit seinem nicht mehr enden wollenden, aus tiefstem Herzen heraussprudelnden Vortrag sprach er Millionen von Menschen aus der Seele. Die Leute haben die Nase voll von Scheinheiligkeit und Moralismus auf Kosten vor allem jener Länder, die einst unter der Kolonialknute des Westens leiden mussten. Infantino erinnerte daran, dass der Sport kaputtgeht, wenn man ihn politisch missbraucht. Stattdessen ist der Sport, kann der Fussball ein Fluchtweg sein aus den Schützengräben der Wirklichkeit. Wo Kriege toben und Brücken brennen, hält der Sport, hält der Fussball die tröstliche Gewissheit wach, dass uns Menschen neben allem Trennenden vieles verbindet. Wir sind nicht zum Krieg und zur Feindschaft verdammt. Friedliche Koexistenz ist über alle Unterschiede und Rivalitäten hinweg möglich.

Das grösste Lob gebührt Katar. Das muslimische Land hat jenen überwiegenden Teil der Welt beeindruckt, der bereit war, diese enorme Leis tung wahrzunehmen. Zwölf Jahre und angeblich 220 Milliarden Dollar hat das Emirat in diese von den Besuchern und Teilnehmern begeistert erlebte Weltmeisterschaft investiert. Natürlich ist Katar nicht perfekt. Aber haben wir im Westen eigentlich vollends die Fähigkeit und die Bereitschaft verloren, Fortschritte zu sehen, imponierende Errungenschaften anzuerkennen? In einem der grössten Einkaufszentren der Stadt unterhalte ich mich mit einem sehr weiblich gekleideten, geschminkten libanesischen Schwulen, der hier seit zwölf Jahren in einem Modegeschäft arbeitet. Er muss sich nicht in einem Kämmerchen verstecken, sondern steht im täglichen Kontakt mit den Kunden, wie er mir erzählt. Nein, die LGBTQ-Community habe es in Europa sicher besser als hier, aber er erlebe keine Diskriminierungen, und die Lage verbessere sich seit Jahren ständig, auch dank dem Fussball. Warum dringen solche Stimmen nicht bis zu uns vor?

Doch kaum verzischt nach der Siegesfeier die letzte Jubel-Rakete über dem bis auf den letzten Platz gefüllten Lusail-Stadion, entrüsten sich unsere Journalisten bereits über den nächsten angeblichen Skandal. Bei der Pokalverleihung streift der Emir dem argentinischen Captain Messi einen noblen Umhang über, eine Art katarischen Königspurpur, Ausdruck höchster Anerkennung, ein Ritterschlag oder die Verleihung eines Adelsordens. Dies sei eine «schamlose Machtdemonstration», weiss die NZZ. «Unsensibel », unkt die Frankfurter Allgemeine. Das Gegenteil stimmt, und die Fakten werden ausgeblendet. Der Emir fragte Messi vor der Pokalübergabe ausdrücklich um Erlaubnis, der Spieler willigte freudig ein, und mit dieser Geste kürte der Staatschef Katars den in Spanien ausgebildeten Südamerikaner zu einem Helden auch der arabischen Welt, zu einer Ikone, die Morgenland und Abendland verbindet.

Das schafft nur der Fussball am Ende eines kriegerischen Jahrs: Christen und Muslime feiern den gleichen Sportler, begraben ihre kulturellen Differenzen, all die eingebildeten Feindseligkeiten und Gegensätze im gemeinsamen Jubel über eine Weltmeisterschaft, die neue Massstäbe setzte. Manchmal überraschen sich die Menschen selber. Nein, der Fussball kann eine kranke Welt nicht heilen, aber er kann unsere Herzen öffnen. Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!

R.K.

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