Weltwoche Kommentar 51/21

Kommentar

«Spider-Man» und die Hoffnung

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er neue Superheldenfilm «Spider-Man: No Way Home» sprengt alle Corona-Kinorekorde. In den USA topfte der Unterhaltungskracher am Startwochenende 253 Millionen Dollar ein. Das ist viel besser als der von den Kritikern hochgelobte «Black Widow» mit einer politisch korrekten, auf Feminismus getrimmten Superfrau, der schwarzen Witwe Scarlett Johansson.

Mit diesem Start schiebt sich der Spinnen- Film an die dritte Stelle der Allzeit-Bestenliste, vorpandemisch geschlagen nur noch von «Avengers: Endgame» (357 Millionen Dollar) und «Avengers: Infinity War» (258 Millionen Dollar). Der geniale Regisseur Martin Scorsese kritisiert zwar diese Hochkonjunktur der Superheldenfilme, aber ich sehe es anders.

Es ist eine gute Nachricht, dass «Spider-Man» triumphiert. Es ist ein Sieg der Unterhaltung über den Dauerernstfall unserer Zeit, diesen pandemisch sich ausbreitenden Moralismus, die dröhnende Macht- und Einschüchterungskulisse, die sich wie eine Monsterwelle um uns herum aufbaut. «Spider-Man» ist ein Fluchtweg aus dem verordneten Trübsinn der Corona- Gegenwart der Staatsallmacht.

Der neue «Spider-Man» will nicht belehren, er will unterhalten. Das ist der Unterschied zu «Black Widow» und «Eternals». Diese beiden Superhelden-Frauenfilme sind ein Ärgernis, gut gemeint, politisch korrekt, überfrachtet mit der Gender-Ideologie. Das ist der Grund, warum sich die Leute in Scharen dem Moralin- Booster entzogen haben.

Ganz anders «Spider-Man». Die Macher haben erkannt, dass die Leute die Nase voll davon haben, dass auch Unterhaltung und Sport seit jüngstem eine Kampfzone der politischen Linken geworden sind. Keine Fussball- EM darf heute stattfinden, ohne dass die Spieler niederknien in stummer Anklage ihres angeblich rassistischen Publikums. Sorry, ich will von diesem Gesinnungs-Müll nicht behelligt werden. Oscar-Verleihungen sind heute langweiliger als ein SP-Parteitag.

Warum ist dieser «Spider-Man»-Erfolg eine gute Nachricht? Weil die Kunst, weil die Kultur, das habe ich von Rechtsprofessor Peter Nobel gelernt, immer Vorbote der Zukunft ist. Gute Künstler haben eine Antenne für das Kommende. Sie nehmen spielerisch in ihren Werken die Bedürfnisse vorweg, die sich tief in unseren Gefühlssynapsen als Sehnsüchte manifestieren.

«Spider-Man» steht für den Wunsch nach einer normalen Gegenwart. Politik und Freizeit sollen zwei unabhängige Welten sein. Ich will nicht dauernd erzogen und belehrt werden von Leuten, die sich für berufen halten, von der schlichten Anhöhe ihrer angemassten moralischen Autorität auf uns herabzupredigen. Wir haben heute, definitiv, zu viel Moralismus, vor allem in der Kultur.

Nichts gegen Moral. Moral ist die Summe aller Regeln des guten Zusammenlebens, an die sich die Leute halten, weil sie sich bewährt haben. Unter Moralismus verstehen wir einen Missbrauch der Moral, die unausrottbare Neigung des Menschen, seine persönlichen Überzeugungen und Meinungen absolut zu setzen, über alle andern, auch über Recht und Gesetz, Anstand und Moral.

Mit allen Menschen kann man gut auskommen, doch man hüte sich vor Moralisten.

Moralisten geht es nicht ums Gute, um die Moral. Moralisten reden von höchsten Werten, aber sie meinen sich selbst. Moralisten sind Narzissten, Egozentriker, die sich der Moral bedienen, um allen anderen ein schlechtes Gewissen einzujagen, damit sie selber besser dastehen. Mit allen Menschen kann man gut auskommen, doch man hüte sich vor Moralisten.

Der neue «Spider-Man» ist das Gegenteil unserer moralistisch verseuchten Zeit, ein Triumph des reinen Vergnügens. Für die Tugendprediger stellt der Film eine Bedrohung dar. Er macht ihnen klar, dass die Leute der grassierenden Humor- und Freudlosigkeit, der politischen Korrektheit, der Gender- und Woke-Duselei überdrüssig sind.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Die siebziger Jahre waren ein fiebriges, düsteres Jahrzehnt, Ölkrise, Arbeitslose, Währungsschocks, Inflation, Watergate, Vietnam-Debakel. Die Filme fielen entsprechend aus, viel linke Ideologie und Moralismus auf der Leinwand, die Unterhaltungsindustrie als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Dann plötzlich kamen aus Hollywood «Star Wars» und «Indiana Jones», George Lucas und Steven Spielberg, die erfolgreichsten Filme überhaupt, Orgien der zweckbefreiten Unterhaltung, radikale Antithesen zum Zeitgeist. Die beiden Westküsten-Wunderkinder machten Kino wie im Hollywood der grossen Zeit, unbeschwert, unpolitisch, grossartig.

Was passierte dann? «Star Wars» und «Indiana Jones» waren Vorboten einer politischen Wende. Auf die linken Traumtänzer der späten siebziger Jahre folgten die liberalkonservativen Wirklichkeitspolitiker Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Sie legten den Grundstein für Wohlstand und Freiheit.

Ich bilde mir ein, «Spider-Man» könnte wie «Star Wars» der Anfang vom Ende unserer gutmenschlichen Verirrungen sein. Wenn die Unterhaltung, wenn die Kunst sich selber wiederfindet als das Andere der Politik, dann ist es nicht mehr weit, bis auch die Politik zurückkommt zur Vernunft.

Ich bin voller Hoffnung und Zuversicht, und ich wünsche Ihnen allen, liebe Leser, mit «Spider- Man» wunderschöne Weihnachten und alles Gute fürs neue Jahr!

R.K.

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