Weltwoche Kommentar 50/21

Kommentar

Warum es Gott gibt

K

ürzlich besuchte mich ein deutscher Journalist. Er war ziemlich niedergeschlagen. Vor lauter Corona verzweifelte er an der Gegenwart. Die Politik, sagte er, missbrauche doch diese Pandemie schamlos, um ihre Macht auszubauen. Die Demokratie gehe zugrunde, der Rechtsstaat löse sich auf. Man dürfe kaum mehr sagen, was man denke. Die Welt stürze in die Finsternis.

Ich musste widersprechen.

Aber bitte keine Missverständnisse: Der Kollege hatte mit vielen seiner Befunde recht. Trotzdem bleibe ich zuversichtlich. Ein Blick ins Alte Testament genügt: Schon vor dreitausend Jahren rannte die Menschheit falschen Göttern hinterher. Es gibt nichts Neues unter der Sonne: Als Moses zu Gott auf den Berg stieg, tanzten die Israeliten im Tal bereits ums Goldene Kalb.

Das Bild hat sich eingeprägt. Menschen sind wundervolle Kreaturen, faszinierende Lebewesen, zu Unglaublichem imstande, im Guten wie im Schlechten. Eines aber sind sie nicht: unfehlbar. Im Gegenteil. Jeder Mensch ist eine einzigartige, rätselhafte Ansammlung von Widersprüchen und Irrtümern, die ihm selber oft am wenigsten einleuchten.

Und besonders verflixt: Meistens sind die Irrtümer dann am grössten, wenn sich die Menschen ihrer Sache am sichersten sind. Nichts ist gefährlicher als eine Gruppe unbeirrbar Überzeugter, eine Gruppe von Erleuchteten, die glauben, auf einem Fundament unerschütterlicher Gewissheiten zu stehen, die letzten Wahrheiten erblickt zu haben.

Auch das ist nichts Neues. Schon immer mussten die Menschen mit sich selber fertig werden. Heute lächeln wir über den Aberglauben früherer Jahrhunderte. Wir wundern uns rückblickend, zu welchen Exzessen des Irrsinns, zu welch namenlosen Verbrechen unsere Vorfahren im Namen irgendwelcher Ideale, die wir längst als Wahnvorstellungen durchschaut zu haben glauben, fähig gewesen sind.

Selbstverständlich halten wir uns für etwas Besseres, für so erhaben über die Abgründe der Vergangenheit. Undenkbar, dass wir in frühere Rasereien verfallen könnten. Niemals.

Schön wär’s. Die Verfasser der Bibel hatten recht: Der Mensch ist dauernd, von Anfang an und für immer anfällig, gefährdet, absturzbedroht, geblendet, verblendet, unterwegs auf dem dünnen Eis seiner Illusionen und Fantasien, die er hartnäckig mit der Wirklichkeit verwechselt.

Das ist kein Abgesang. Im Gegenteil. Es ist ein Hohelied. Menschen sind aus krummem Holz geschnitzt. Trotzdem haben sie überlebt, Zivilisationen aufgebaut, wieder zerstört und zusammengesetzt, neues Leben blüht aus den Ruinen, die wundervollsten Kunstwerke geschaffen, eine Staatsform erfunden, die unserer herrschsüchtigen Natur widerspricht, Demokratie, Menschenrechte, Starke nehmen auf die Schwachen Rücksicht, im Grunde ein Wunder, nicht zu reden von der Schweiz, diesem menschengemachten Spezialfall, der auf die Provokation hinausläuft, dass der Mensch, dieser grossartige, himmeltraurige Geselle, sich am Ende selbst regiert.

Noch vor tausend Jahren, einem Lidschlag der Geschichte, hätte man einen für verrückt erklärt, der so etwas wie die Schweiz überhaupt für denkbar gehalten hätte. Wäre alles verloren, verdammt und verworfen auf diesem Planeten, würde es eine Schweiz nicht geben.

Es ist keine Kunst, aus wunderbaren Zutaten ein grossartiges Abendessen zu kochen. Die Menschen aber haben es geschafft, aus dem unzulänglichsten Rohstoff, den es gibt, sich selbst, funktionierende Demokratien zu formen.

Ich gehe noch weiter: Die Geschichte hat grössere Katastrophen gesehen als die Corona- Finsternis meines deutschen Kollegen. Wir wollen nichts verharmlosen, aber im Rückblick ist es ein Wunder, dass es die Menschheit überhaupt noch gibt. Denn nichts haben die Menschen unversucht gelassen, um sich gegenseitig auszurotten.

Warum eigentlich gibt es uns noch?

«Nur ein Gott kann uns retten», rief in seinem letzten Interview verzweifelt der deutsche Über-Philosoph Martin Heidegger, enttäuschter Katholik, der nie über Nietzsches «Gott ist tot» hinweggekommen war.

Heidegger irrte. Gott ist nicht tot. Er war immer da. Um uns vor uns selbst zu retten.

Ich behaupte: Es muss eine gütige Vorsehung geben, einen gnädigen Gott. Sonst hätte sich die Menschheit längst zerfleischt. Auf sich allein gestellt, wären die Menschen ausgestorben, zugrunde gegangen an sich selbst.

Der einleuchtendste Gottesbeweis, den wir haben, ist die schlichte Tatsache, dass es die Menschen immer noch gibt.

Spielt es eine Rolle, ob wir an Gott glauben? Gottseidank glaubt Gott an uns.

Aber Achtung: Damit rechtfertige ich kein Verbrechen, das die Menschen begangen haben. Und man soll mir diesen Artikel auch nicht zum Freispruch unserer Corona-Politiker umdeuten.

Was ich aber meinem deutschen Kollegen antworten möchte: Die Welt ist nicht verdammt. Alle Probleme, die wir uns selber eingebrockt haben, können wir selber wieder lösen. Und für alles andere sind höhere Mächte zuständig.

Fürchtet euch nicht. Bald ist Weihnachten.

R.K.

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