Weltwoche Kommentar 50/20

Kommentar

Die Toten und die Lebenden

T

ote sind ein heikles Thema. Trauer ist ein spezielles Gefühl. Wie man weiss, habe ich meine Eltern früh verloren. Das war für unsere Familie eine Katastrophe. Die Grosseltern verwanden den Tod ihrer Tochter, meiner Mutter, nie. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die eigenen Kinder sterben.

Natürlich waren wir alle sehr traurig, aber die Trauer über den Tod eines geliebten Menschen ist etwas Persönliches, Intimes. Man stellt sich nicht auf ein Podest und fordert die Umstehenden auf, gefälligst mitzutrauern. Je tiefer und ehrlicher die Trauer ist, desto mehr behält man sie für sich.

Das ist der Grund, warum ich öffentlich trauernden Politikern misstraue. Die Masche funktioniert bei mir einfach nicht. Sie funktioniert vor allem dann nicht, wenn Politiker das Gefühl der Trauer anderer gezielt einsetzen, mobilisieren, missbrauchen, um damit ihre politischen Ziele zu erreichen.

Ein Meister dieser Politik des aufgesetzten Mitgefühls ist SP-Co-Präsident Cédric Wermuth, einer der ambitioniertesten Politiker in Bern. Letzten Freitag empörte er sich in der TV- «Arena» über die angebliche Gleichgültigkeit der Schweiz gegenüber den mittlerweile über 5000 Corona-Toten.

Es war eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Wermuth schwang sich zum Fürsprecher der Verblichenen auf, machte das Leid der Hinterbliebenen zu seiner Waffe gegen die Bürgerlichen, denen er den Vorwurf unterjubelte, sie würden Menschen umbringen mit ihrer Corona-Politik.

Der Politiker als Menschenretter, der Parteipräsident als Kämpfer für den Schutz des Lebens: In dieser gebieterischen Moralpose ist auch SP-Bundesrat Alain Berset unterwegs. Er verteidigt seine Politik jeweils mit dem Hinweis, er wolle die «schwächsten Mitglieder» der Gesellschaft schützen.

Mit der moralischen Vereinnahmung des Lebens ist in der Politik immer auch ein Vorwurf verbunden: Man imprägniert sich gegen Widerspruch. Denn kaum einer getraut sich, den Robin Hoods der Schwächsten und Gestorbenen, an die angeblich niemand denkt, zu kontern.

Wer wie Wermuth den Schutz des Lebens zur Priorität erklärt, muss auch gegen Abtreibungen sein.

Indem sie sich zu Schutzengeln des Lebens und zu Rächern der Toten erklären, ist jeder, der widerspricht, fast automatisch ein Zyniker, ein Egoist, der hartherzig «ein paar Franken Profit» hinzuverdienen möchte, wie Wermuth in der letzten «Arena» zürnte.

Ich habe grossen Respekt vor Politikern, die sich für den Schutz des Lebens und für die Schwachen einsetzen, aber ich halte nichts von der hohlen Betroffenheit, die hier aus politischen Gründen inszeniert wird.

Kurz: Ich nehme es den beiden nicht ab. Ich glaube ihnen nicht, dass sie es ernst meinen.

Das hat einen einfachen Grund. Berset und Wermuth sind nicht konsequent. Wenn man sich als Politiker hinstellt und den Schutz der Schwächsten, die Bewahrung des Lebens zur heiligen Priorität erklärt, kann man nicht gleichzeitig für Sterbehilfe oder für Abtreibungen sein.

Sind nicht auch Embryos «schwächste Mitglieder » der Gesellschaft? Ich halte hier kein Plädoyer gegen Abtreibung. Ich plädiere für Ehrlichkeit. Wer den Begriff des Lebens in die Politik einbringt, um sich eine Aura moralischer Unangreifbarkeit zu sichern, sollte diesen Begriff nicht selektiv verwenden.

Anders ausgedrückt: Mit ihrer einseitigen Lebensschutz-Rhetorik haben weder Berset noch Wermuth das Recht, anderen Menschen zu unterstellen, sie würden den Wert des Lebens weniger hoch einschätzen als sie. Sie haben keinen Anspruch, sich moralisch gegenüber andern aufzublähen.

Was folgt daraus? Wir sollten sachlicher über Corona diskutieren. Ja, es sterben vor allem Alte und Gebrechliche. Und nein, die Bürgerlichen haben keine finstere Agenda, nur weil sie darauf hinweisen, dass wir wegen der Pandemie nicht die ganze Schweiz abstellen dürfen.

Berset und Wermuth sind ein Beispiel dafür, wie Moralismus gute Politik verhindert. Wenn sich die einen über die anderen erheben, um sie zu verachten oder zu verleumden, gibt es keine Diskussionen mehr.

Ja, wir sollten an die Toten denken. Aber nicht nur an die Corona-Toten, sondern, wenn schon, an alle über 60 000 Toten, die jährlich in der Schweiz an Krankheit oder Unfall sterben. Es ist aber auch nicht verboten, an die Lebenden zu denken. Und daran, wie sie diese Pandemie am besten überstehen, ohne dass sie die Politik am Leben hindert.

R.K.

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