Weltwoche Kommentar 49/22

Kommentar

Wunder der Freiheit

Bern
D

as Schönste an Schweizer Bundesratswahlen: Sie erinnern uns daran, dass das Wohl der Schweiz zum Glück nicht an ihrer Regierung hängt. «Bundesräte sind Fussnoten unserer Geschichte», sagte in seiner brillanten, tiefsinnigen Abschiedsrede Finanzminister Ueli Maurer. Die Schweizer regieren sich selber. Darum dulden sie auch keine wirklich starke Regierung über sich.

Schweizer Bundesratswahlen haben auch etwas Folkloristisches. Die Luft im Bundeshaus ist elektrisch geladen. Die Medien marschieren in Regimentsstärke auf. Alle haben das Gefühl, alles drehe sich nur um sie. Alle, fast alle Parlamentarier tragen Krawatte, die Anzüge sind gebügelt. Nie sehen die Frauen im Bundeshaus besser aus, Hochamt, Respekt, aber auch Fegefeuer der Eitelkeiten. Für einmal dürfen die Politiker das Gefühl haben, sie hantierten an den Schicksalsweichen der Geschichte.

In prägnanten, frei gesprochenen Worten brachte es Bundesrat Maurer in seiner genialen Ansprache auf den Punkt. Seit 174 Jahren hat die Schweiz eine moderne, nur leicht modifizierte Verfassung, Bollwerk der Stabilität. Um uns herum sind Reiche entstanden und vergangen, haben blutigste Revolutionen, Umstürze, Massenmorde und Wiederauferstehungen stattgefunden. Die Schweiz wechselt im gemächlichen Rhythmus einfach ihre Bundesräte aus. Wunder der Freiheit und einer weltweit einzigartigen direkten Demokratie.

Die Schweiz ist eine Errungenschaft, eine kollektive Leistung. Das Geheimnis liegt darin, dass nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben regiert wird. Das droht in den geschirmten Abteilungen des Bundeshauses gelegentlich vergessen zu werden, vor allem an Tagen wie diesem. Umso wichtiger, dass Maurer ausgerechnet an einer Bundesratswahl an die relative Geringfügigkeit des Amts erinnerte. Die Schweiz ist die einzige Demokratie der Welt, in der die Bürger im umfassenden Sinn des Wortes Bürger sind.

Trotzdem ist nicht gänzlich unerheblich, wer für die Parteien in den Bundesrat einzieht. Die Regierung ist oberstes Vollzugsorgan des Volkes. Sie verkörpert Einheit und Vielfalt unseres Landes. Bundesräte entscheiden kollegial, sie unterstehen nicht dem ständigen Druck, etwas tun und verlautbaren zu müssen. In einer kommunikationsverrückten, moralindurchseuchten Zeit ist das von Vorteil. Als Bundesrat kann man hinter dem Volk auch legitim in Deckung gehen, um den Versuchen des Auslands, das die Schweiz oft mit irrigen Forderungen behelligt, den Druck zu nehmen.

Die tiefe Weisheit unserer Staatsform ist, dass sie auch ohne Superhelden bestens funktioniert.

Das Kollegiale ist eine echte Stärke, wenn es nicht nur eine Floskel ist. Die Gegenwart ist anspruchsvoll. Die Schweiz steht im Wirtschaftskrieg mit Russland. Die Neutralität ist arg verbeult. Brüssel zieht mit immer neuen Knebelverträgen die Daumenschrauben an. In Deutschland blinken die Ampeln dunkelrot. Am Horizont leuchtet drohend eine Rezession. Migrationswellen überschwemmen Europa, und die sich in den Haaren liegende Welt braucht dringend Frieden, Zusammenarbeit, mehr Bereitschaft, auch die andere Seite zu verstehen.

In den Bundesrat ziehen jetzt zwei ausgesprochene Sympathiepolitiker ein, Pulswärmer, vielleicht gar kein Nachteil, der SVP-Favorit Albert Rösti, Berner Oberländer Pöstchenchampion mit spitzbübischem Adolf- Ogi-Potenzial, und die Jurassier SP-Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider. Die Aussenseiterin legte einen Blitzaufstieg hin, auch zur sichtbaren Verblüffung, ja Verärgerung ihrer eigenen Partei, die sich mit ihrem Frauenticket selber schachmatt setzte. Eva Herzog, Favoritin der Parteileitung, allzu kühl und etwas überheblich, blieb geschlagen, weil etliche Parlamentarier ihre Stimme zuerst Daniel Jositsch, dem heimlichen Königsmacher, und dann Elisabeth Baume-Schneider gaben.

Beiden Siegern gelangen entwaffnende Begrüssungsreden mit leicht chaotischen Anklängen, die erste Tuchfühlung ist geglückt. Mögen die beiden zu einem wieder besseren Zusammenwirken innerhalb der Landesregierung beitragen, zu echter Kollegialität, das heisst: heftigen Debatten und sachbezogenen Auseinandersetzungen. Für den Bundesrat gilt das berühmte Trainer-Motto aus «Any Given Sunday», Oliver Stones legendärem Football- Kinofilm mit Al Pacino: «Wir werden entweder gewinnen – als Mannschaft. Oder als Einzelkämpfer untergehen.»

Der Zauber jeder Bundesratswahl liegt darin, dass sie uns das Wunder unserer Schweiz vergegenwärtigt. Diesmal ging alles ohne Bitterkeit und fast ohne Machiavelli-Spielchen und Winkelzüge über die Bühne. Vielleicht ein gutes Zeichen. An Bundesräten gäbe es immer eine Menge herumzumäkeln. Deshalb ist die tiefe Weisheit unserer Staatsform, dass sie auch ohne Superhelden bestens funktioniert. In Krisenzeiten aber können auch Normalsterbliche über sich hinauswachsen. Das ist vielleicht die grösste Stärke unserer freiheitlichen Schweiz: Sie hindert niemanden daran, das Beste aus sich herauszuholen.

R.K.

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