Weltwoche Kommentar 48/23

Kommentar

Zweierlei Völkerrecht

Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe.
Carl Schmitt
Dresden
N

ach vermutlich glaubhaften Schätzungen sollen bei Beginn der Waffenruhe in Gaza über 14 000 Palästinenser bei den israelischen Angriffen gestorben sein, darunter viele Frauen und Kinder. Täuscht mein Eindruck, oder gehen unsere Medien und Politiker mehr oder weniger stillschweigend über diese Tatsache hinweg? Das Schweigen jedenfalls berührt mich als Ausdruck stossender Doppelmoral. Ich kann mich gut erinnern, als unsere Journalisten, kaum hatten die Russen die Grenze zur Ukraine überschritten, hell empört, entflammt vor Zorn von «Putins Vernichtungskrieg» berichteten.

Das war genauso unangemessen wie jetzt die ohrenbetäubende Stille über die viel zu hohe Zahl an zivilen Opfern in Gaza. Ich schicke voraus, dass ich ebenso Mühe habe mit der zum Teil gellenden Kritik an Israel, die es auch gibt, weniger in den etablierten Medien als in zahlreichen Blogs und Online-Portalen. Diese Stimmen scheinen mir auszublenden, dass es Israel mit einem perfiden Feind zu tun hat, der sich hinter der eigenen Zivilbevölkerung versteckt, um genau jene schrecklichen Bilder zu provozieren, die dann gegen Israel als Waffe im Propagandakrieg dienen sollen.

Was aber im Norden Gazas zweifellos in Trümmern liegt, ist jetzt, einmal mehr, die sogenannt «regelbasierte Ordnung» des Westens. Ich bin kein Gegner des internationalen Rechts und des Versuchs, die Wildnis zwischenstaatlicher Beziehungen juristisch zu zähmen und einzuhegen. Aber wenn man schon dauernd von «Völkerrecht» spricht, obwohl das Völkerrecht mitnichten von den Völkern gemacht wird, sondern meistens von Funktionären oder von Politikern, dann sollte man sicherstellen, dass es auch für alle mehr oder weniger gleich angewendet wird.

Das ist heute keineswegs der Fall. Das Völkerrecht empfinden viele, möglicherweise eine weltweite Mehrheit, als Herrschaftsinstrument der Amerikaner. Wir haben vom Ukraine-Krieg gesprochen. Hier zögerte «der Westen» keine Sekunde, den russischen Präsidenten schwerster Kriegsverbrechen zu bezichtigen. Der Strafgerichtshof von Den Haag erliess gegen Putin einen Haftbefehl, weil dieser ukrainische Kinder aus den von Russen besetzten Gebieten «deportieren » lasse. Die russische Seite hingegen spricht davon, sie bringe die Kinder in Sicherheit vor der ukrainischen Artillerie.

Man möge das dereinst unabhängig aufklären. Aber müsste Den Haag, wenn die internationale Strafgerichtsbarkeit überall die gleichen Massstäbe anlegt, nicht auch Israels Regierungschef Netanjahu genauer unter die Lupe nehmen, von den Hamas-Killern gar nicht erst zu reden? Die Verschleppung von Kindern durch die Russen mag ein fürchterliches Verbrechen sein. Die brutale Tötung von Kindern durch israelische Bomben in Gaza wäre dann aber wohl das noch viel schlimmere Verbrechen. Entweder gilt das internationale Strafrecht für alle, oder es gilt nicht.

Nun kann es dem Westen und seinen Wortführern nicht egal sein, wenn solche Widersprüche unaufgelöst stehenbleiben. Der Westen, die Amerikaner, die Europäer rechtfertigen ihr Handeln ausnahmslos dadurch, dass sie sich zum Gralshüter internationaler rechtsstaatlicher Normen erklären, zum Garanten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten gegen die «Despotien» und «Autokratien» des Ostens. Wo sind die Menschenrechte in Gaza? Haben die Palästinenser keine Menschenrechte? Oder beansprucht Israel für sich ein Sonderrecht? Zweierlei Völkerrecht?

Irreführend ist die Behauptung, in der Ukraine habe eine «Zeitenwende» oder in Israel ein «Zivilisationsbruch» stattgefunden. Kriege und Terror sind uralte Begleiter der Menschheit. Leider. Solche Begriffe haben deshalb vor allem einen ideologischen Sinn. Sie sollen das eigene Handeln rechtfertigen und den Gegner maximal ins Unrecht setzen. Israels Regierung spricht von einem «Zivilisationsbruch», um den «Zivilisationsbrecher» umso härter zu bestrafen, notfalls auch mit «unzivilisierten» Mitteln, denn gegen einen «Zivilisationsbrecher» ist schliesslich jedes Mittel recht.

Das ist die abschüssige Bahn, auf der sich der Westen jetzt bewegt. Vielleicht ist die Kritik an Israel ausserhalb des Mainstreams auch deshalb so vehement, weil viele die Heuchelei der «regelbasierten Ordnung» und der «wertegebundenen Aussenpolitik» zusehends als unerträglich und unehrlich empfinden. Es ist auch kein Wunder, dass sich immer mehr Staaten vom «Westen» abwenden. Dahinter steckt wohl weniger die wachsende Sehnsucht nach Autokratie als vielmehr eine weitverbreitete Abneigung gegen die verlogene Arroganz westlicher Politiker.

Allerdings wäre es falsch, angesichts der offensichtlichen Doppelmoral und der missbräuchlichen Beschwörung «westlicher Werte» die Vorstellung internationaler Regeln gänzlich über den Haufen zu werfen. Der Versuch, den Raubtierdschungel der Grossmächte rechtlich einzuhegen, ist richtig. Aber man muss sich vor Augen halten, dass in der Aussenpolitik zuerst die Macht und dann erst das Recht regiert. Dank dieser Einsicht wird die Welt zwar nicht automatisch friedlicher, aber wenigstens ehrlicher. Und ohne ein Mindestmass an Ehrlichkeit gibt es kein friedliches Zusammenleben.

R.K.

Cover: Roger Dohmen/HH/laif

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