Weltwoche Kommentar 47/22

Kommentar

Danke, Gianni Infantino!

I

n seiner aus dem Herzen gesprochenen, kaum mehr enden wollenden, von den Medien mit einer Orgie nörgelnder Freudlosigkeit gekonterten Grundsatz-Rede zum Start der Weltmeisterschaft in Katar hat Gianni Infantino, der Chef des Weltverbands Fifa, ein grossartiges Plädoyer für den Fussball und die völkerverbindende Kraft des Sports gehalten.

Der Präsident sprach frei, aus dem Bauch heraus. Sein Vortrag wirkte weder einstudiert noch abgelesen; es waren auch durchaus skurrile Momente dabei, etwa, als sich der Fifa-Millionär zum Robin Hood der Entrechteten und Bedrückten erklärte, doch mit seiner Botschaft lag er goldrichtig: Diese Fussball-WM ist ein Lichtblick der Lebensfreude, der Hoffnung und der Verständigung in einer kriegerischen Welt.

Natürlich hat Infantino recht. Der Westen betrinkt sich gerade wieder einmal an seiner Hochmoral, die Heuchelei ist kaum mehr auszuhalten. Ausgerechnet jene Zivilisation, die in den letzten tausend Jahren die Welt mit blutigsten Raubzügen kolonialer Ausbeutung überzog, nötigt den einstigen Kolonien erneut die eigenen Wertvorstellungen auf, Imperialismus auf Gutmenschenart diesmal.

U

nsere Welt brennt. Kriege toben. Die Politik hebt Schützengräben aus. Die Medien reden uns ein, es gehe um einen Showdown der Guten gegen die Bösen. Infantino spricht allen aus der Seele, auch mir, die mit solchen Vorstellungen wenig anfangen können. Und er erinnert daran, dass gerade der Sport, der Fussball, in einer Zeit brennender Brücken die Menschen wieder zusammenführen kann.

Katar ist das erste arabische Land, das eine Fussball-WM ausrichtet. Das ist grossartig. Genau hierin liegt doch der Sinn solcher Veranstaltungen, dass sie uns aus den gewohnten Revieren herausführen, Verbindung und Anerkennung schaffen unter den Kulturen. Mit dieser WM trägt Katar dazu bei, den angeblichen «Zusammenprall der Zivilisationen» von Ost und West zu entschärfen. Umso befremdlicher wirken da die an Rassismus grenzenden Verleumdungen und Unterstellungen unserer Medien an die Adresse der Veranstalter («Farbenfrohe Märsche, aber sind das echte Fussballfans?»). Katar ist ein beeindruckendes Land, das seinen eigenen Weg in die Zukunft geht. Nicht aus Zufall ist hier der weltweit anerkannte arabische News-Sender «Al-Dschasira » zu Hause.

Lasst den Sport Sport sein. Hört auf, auch den Fussball in die Kampfzonen der Menschen hineinzuziehen.

Auch die Gräuelgeschichten über Ausbeutung und Massensterben auf katarischen Baustellen sind an den Haaren herbeigezogen, durch Fakten widerlegt. Infantino hält als Sohn einer italienischen Gastarbeiterfamilie den Schweizer Berichterstattern den Spiegel vor. Wer sind wir eigentlich, um uns im Ausland dermassen selbstgerecht aufzuspreizen?

Gewiss: Die Fifa ist oft nicht minder scheinheilig als die Medien, die der Präsident so leidenschaftlich zerpflückte. Wer den Fussball selber zum Instrument der Politik macht, muss sich nicht wundern, wenn auch andere Appetit bekommen. Es war die Fifa unter Infantino, die Russland von dieser WM ausgeschlossen hat. Im «Geist der Toleranz», auf den sich der Chef nun wortreich beruft?

Lasst den Sport Sport sein. Hört auf, auch diese letzte Sphäre des zweckfreien Spiels in die Kampfzonen und Kriegsschauplätze der Menschen hineinzuziehen. In der Antike ruhten die Waffen, wenn die Athleten bei Olympia in die Arenen stiegen. Sport ist eine Oase, ein Fluchtweg aus der Wirklichkeit. Wo es diesen Fluchtweg politisch nicht mehr geben darf, wird das Politische totalitär.

Einst besangen die Dichter den «Homo ludens », den spielenden Menschen. Für Schiller lag im Spiel eine Ahnung des Göttlichen. Der Dramatiker Kleist sah in tanzenden Marionetten einen Widerschein des Absoluten. So hoch müssen wir es nicht hängen, aber Vulkanausbrüche des Glücks, wie sie die Saudis nach ihrem Sieg gegen Argentinien erlebten, können durchaus überirdische Qualitäten haben.

A

us etwas grösserer Distanz betrachtet, bestätigt gerade diese Fussball-WM, was der Philosoph Hermann Lübbe in der letzten Weltwoche als ein segensreiches Zusammenrücken der Menschheit bezeichnete. Man beginnt sich für den anderen zu interessieren. So gesehen, hat auch die Kritik ihr Gutes. Sie löst Diskussionen aus, die am Ende immer zu mehr, nicht weniger Verständnis führen.

«Wir leben in der gleichen Welt, wir müssen zusammenleben, wir müssen einander verstehen, wir müssen auch verstehen, dass wir unterschiedlich sind.» Stimmt. «Anstatt auf andere Kulturen zu spucken», sagt Infantino, sei es besser, mit Respekt auf sie einzuwirken, «step-by-step», um sie offen zu halten für Fortschritte und Veränderungen aus eigener Kraft.

Das sind weise Worte. Sie reichen über den Sport hinaus. Kriegerisch und überheblich mischt sich der Westen seit Jahrhunderten in andere Kulturen ein. Auf die gewaltsamen Modernisierungen von aussen folgten Retourkutschen. Nicht zuletzt der Islamismus ist eine Reaktion auf die traditionsblinde Verwestlichung. Weniger Brechstange, mehr Behutsamkeit – so lautet Infantinos kluger Rat.

Völker haben ihren eigenen Rhythmus. Die Balance zwischen Herkunft und Zukunft muss immer wieder neu gefunden werden. Katar ist das Beispiel eines Landes, das in die Zukunft geht, ohne seine Herkunft abzuschneiden. Mit dieser WM präsentiert und nähert sich der Wüstenstaat unserer Welt. Anstatt hochmütig zu mäkeln, sollten wir den Katarern die Hand zur Freundschaft reichen.

Danke, Gianni Infantino!

R.K.

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