Weltwoche Kommentar 46/21

Kommentar

Bundesrat Cassis, bleiben Sie zu Hause

S

chweizer Politiker geben sich derzeit in Brüssel die Türklinke in die Hand. Eben kehrte eine Berner Parlamentariergruppe ernüchtert aus der EU-Hauptstadt zurück. Selbst die grössten EU-Enthusiasten erschraken angesichts des Gletscherspaltenempfangs, den ihnen Vertreter der Union bereiteten. Schneidende Herablassung wehte den Schweizern entgegen.

Kurz darauf pilgerte Aussenminister Ignazio Cassis in die Glastempel der EU. Brüssel ist die Stadt, die mit Slogans tapeziert ist. Fast wie in Nordkorea oder einst in der DDR dröhnen politische Propagandasprüche von den Transparenzfassaden. Willkommensgrüsse an die Schweiz sind nicht dabei. Auch der Bundesrat landete unsanft auf dem Hartbeton der europapolitischen Wirklichkeit.

Was sich der Tessiner in Brüssel anhören musste, erinnerte an einen Marschbefehl: EU-Kommissar Sefcovic will bis nächsten Januar Taten sehen. Die Schweiz soll sich dem EU-Recht unter EU-Richtern anpassen. Brüssel fordert regelmässige Zahlungen und gleiche Wettbewerbsbedingungen. Am besten die Schweiz löse sich gleich ganz auf im EUEinerlei.

Mit ihren Bittgängen auf der EU-Kriechspur erniedrigt sich die Schweiz. So macht sich Cassis zum Aussenminister der traurigen Gestalt. Sein Plan war es, das EU-Packeis mit einer Milliardenzahlung ohne Gegenforderung aufzuknacken. Passiert ist das Gegenteil. Das Klima ist frostiger und die Forderungen sind noch frecher geworden.

Ganz generell wirkt die Schweizer Präsenz in Brüssel irgendwie verquält. Die Eidgenossenschaft unterhält an bester zentraler Lage als Botschaftssitz einen Prachts-Palazzo fast wie eine Siegermacht des Zweiten Weltkriegs am Brandenburger Tor Berlins. Nur: Man hat das Gefühl, nicht Selbstbewusstsein, sondern ein schlechtes Gewissen habe die Helvetier ins Zentrum der EU geführt.

Dabei wäre es ganz einfach: Ignazio Cassis sollte aufhören, sich unterwürfig von den EUBürokraten die Agenda diktieren zu lassen. Stattdessen könnte er Sefcovic und Kollegen endlich reinen Wein einschenken. Ehrlichkeit ist auch eine Form des Anstands.

Die Schweiz kann sich auf die Forderungen Brüssels niemals einlassen. Wir sind nicht Mitglied der EU-Rechtsordnung, auch wenn wir in Europa Kopfwehtabletten und Fahrräder verkaufen. Kämen wir jemals auf die Idee, uns in einem Wirtschaftsvertrag mit China zur Übernahme zukünftigen chinesischen Rechts zu verpflichten? Etwas in der Art verlangt die EU von der Schweiz.

Nichts, aber auch gar nichts haben wir Schweizer gegen gute Beziehungen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie sind schon heute hervorragend. Die Schweiz ist ein exzellenter Kunde, der ausserdem seine Rechnungen pünktlich zahlt. Ohne dass man ihm vorher einen siebenstelligen Kredit rüberschieben muss.

Ja, die EU ist beleidigt, weil ihr der Bundesrat jahrelang Hoffnungen gemacht hat, die störrischen Schweizer würden dann irgendwann doch noch der EU beitreten. Die versprochene Heirat fand nie statt. Das ist unschön, aber Hand aufs Herz: Auch die EU hat schon viele Hoffnungen enttäuscht, zum Beispiel jene der Türken auf den in Aussicht gestellten Beitritt, den die EU nicht mehr will.

Die Niederlage beginnt, wenn man anfängt, sich darauf einzustellen. Ignazio Cassis handelt wie ein Verlierer. Warum eigentlich? Er hat es doch nach ein paar anfänglichen Verrenkungen gut gemacht beim Rahmenvertrag. Er weiss, dass die Forderungen der EU absurd sind und niemals in Erfüllung gehen können. Man möchte ihm zurufen: «Stehen Sie hin und sprechen Sie es aus.»

Noch besser: Cassis sollte zu Hause bleiben. Im Ausland verhandelnde oder dialogisierende Bundesräte sind immer ein Sicherheitsrisiko für die Schweiz. Wer als erster sein Haus verlässt, hat bereits verloren. Schweizer Politiker halten es für anständig, wenn sie sich auswärts für die Schweiz entschuldigen. Die Selbstkritik weckt dann jeweils den Heisshunger der anderen.

Stimmt: Die EU ist ein Friedensprojekt, und das seit über 70 Jahren. Die Schweiz aber ist ein Friedensprojekt seit über 500 Jahren. In finstersten Zeiten haben wir das Fähnchen der Demokratie in Europa hochgehalten. Wir sind ein Wohlstandsreaktor im Zentrum dieses Kontinents. Cassis sollte es nicht zulassen, dass die EU-Politik sich an der Schweiz die Schuhe abstreift.

R.K.

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