Weltwoche Kommentar 44/20

Kommentar

Sehnsucht nach dem Führer

S

o gross war die Sehnsucht nach Entmündigung noch nie. Die Kantone rufen nach dem starken Mann, dem Viren-General in Bern, nur allzu willig, ihre Verantwortung an die Zentrale abzutreten. Auch die Medien sind im «Duce»-Rausch, sehnen sich nach einem starken Führer, der uns die Lebens- und Corona- Lasten abnimmt. Fast flehentlich bitten sie den Bundesrat, endlich, endlich die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, die Schrauben anzuziehen, durchzugreifen. Freiheit? Eigenverantwortung? Föderalismus? Das ist Schnee von gestern.

Nicht einmal der mutmassliche Diktator Donald Trump in den USA hat einen derartigen Machtheisshunger und Zentralismusappetit entwickelt wie die Schweizer Medien und Teile der Politik. Eigentlich das Gegenteil. Trump gehört zu den ganz wenigen Staatsoberhäuptern der Welt, die das Corona-Fieber nicht missbraucht haben, um ihre persönliche Macht und die Macht ihrer Regierungen aufzurüsten. Erzföderalist Trump hält Ideale hoch, die in der Schweiz derzeit vergessen werden.

Der Viren-Zentralismus schadet mehr, als er nützt. Die Medien prangern «Corona-Ignoranten » an, die Hochzeiten, Jubiläumsfeste, volksmusikalische Flussfahrten durchführen und damit die Testfallzahlen nach oben treiben. Doch die Medien irren. Nach heutigem Wissen waren die Veranstaltungen erlaubt, und offenbar wurden die Sicherheitskonzepte eingehalten. Aber eben auch die Sicherheitskonzepte aus Bern können ungenügend sein oder zu Sorglosigkeit verführen.

Wenn der Staat die Regie übernimmt, ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. Die Leute müssen nicht mehr selber denken, weil der Staat für sie denkt. Sie müssen nicht mehr selber vorsichtig sein, weil ihnen der Staat seine Vorsichtsregeln aufzwingt. Niemand darf sich wundern, dass so viele Junge nach dem Lockdown in die Nachtklubs strömen, denn der Bundesrat hat die Nachtklubs höchstselbst mit dem Gütesiegel der Eidgenossenschaft geöffnet. Die «Corona-Ignoranten» haben nur die Anweisungen aus Bern befolgt.

Es ist skurril: Wir trauen den Schweizern zu, in Volksabstimmungen über schwierigste Fragen zu entscheiden. Aber wenn es um etwas vom Wichtigsten geht, um die Gesundheit, sind die Medien und die meisten Parteien aufs wildeste entschlossen, das sonst als so mündig besungene Volk staatlicher Bemutterung zu unterstellen. Im Kampf gegen die Pandemie kann es gar nicht genug Staat geben.

Man muss das Virus ernst nehmen, aber man darf sich davon nicht verrückt machen lassen. Covid-19 ist gemäss aktuellem Forschungsstand etwa doppelt bis viermal so tödlich wie eine Grippe, wobei die Hauptrisiken bei Älteren und Vorerkrankten liegen. Für den Autor dieser Zeilen beträgt das Sterberisiko zwei bis vier Tausendstel. Gesunde Junge unter vierzig haben eine Chance von 99,99 Prozent, Covid zu überleben. Die Gefahr ist nicht null, aber sie ist gewiss kein Grund, sich einsperren zu lassen, auf das Leben zu verzichten, auf Restaurantbesuche, politische Veranstaltungen, Konzerte, Einladungen oder Eishockeyspiele.

Auch die Medien sind im «Duce»-Rausch, rufen nach einem starken General der Viren.

Würde jeder Einwohner der Schweiz einen Zentimeter darstellen, gäbe das eine Strecke von 86 Kilometern. Davon haben wir 18 Kilometer getestete Personen. Davon sind 1,21 Kilometer positiv Getestete. Bis zum 27. Oktober gab es 19,1 Meter an oder mit Corona Verstorbene, Durchschnittsalter 84. 17 Meter sind in Spitalbehandlung. Auf der Intensivstation liegen 1,72 Meter. Niemand sperrt eine ganze Autobahn von 86 Kilometern ab, weil man 1,72 Meter reparieren muss.

Das grösste Panikorchester neben den Medien ist die Politik. Die Kantonsregierungen drücken bereits auf die Alarmsirene, die Spitalbetten würden demnächst knapp. Das mag gut gemeint sein, führt aber nur dazu, dass verunsicherte Patienten Druck auf ihre Hausärzte machen, sie möglichst schnell einzuweisen, solange noch Betten frei sind. Staatszentralismus ist auch in Pandemiezeiten nicht die Lösung, sondern oft nur das Problem.

Empfehlen statt befehlen: Der Staat soll loslassen, die Verantwortung zurückgeben. Die Schweizer wissen selber, wie sie sich und andere schützen können. 8,6 Millionen Durchschnittshirne sind klüger als sieben Superhirne im Bundesrat. Nach acht Monaten Corona darf man den Schweizern auch zutrauen, dass sie Rücksicht nehmen auf Schwächere. Sie brauchen keine Befehle aus Bern. Gute Informationen genügen.

Wir stehen nicht vor einem dunklen Winter. Wir sehen das Licht am Ende des Tunnels: tiefere Sterblichkeit, bessere Behandlungen, Impfstoff im Anflug. Die Pandemie des Pessimismus könnte durch politischen Optimismus gebändigt werden. Das aber fehlt. Die Politiker haben mehr Angst vor den Medien als vor Corona. Doch die Schweizer wollen keinen totalen Corona-Staat. Längst haben sie gelernt, mit dem Virus zu leben.

R.K.

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