Weltwoche Kommentar 43/22

Kommentar

Zurück zum Frieden

D

as grösste Missverständnis besteht darin, zu glauben, dass die Welt ein Paradies wäre, wenn es nur den anderen nicht gäbe. Dahinter steckt ein Mangel an Bereitschaft, andere Meinungen, andere Standpunkte, andere Völker, andere Zivilisationen wahrzunehmen, zu verstehen, ernst zu nehmen, die Welt nicht einfach nur durch die eigene Brille anzuschauen.

Jede Zivilisation beginnt damit, dass ich bereit bin, die andere Seite mit den Augen der anderen Seite zu betrachten. So ähnlich hat es der deutsche Schriftsteller Uwe Johnson formuliert. Berühmte Philosophen definierten den Menschen als empathiefähiges Lebewesen. Ich neige diesem Optimismus zu. Die Weltgeschichte ist die Chronik des globalen Zusammenrückens.

Wir müssen wieder lernen, mit Vielfalt und anderen Kulturen umzugehen. Politik und Medien wollen uns einreden, dass wir uns in einem Weltkrieg zwischen «Demokratie» und «Autokratie » befinden, zwischen West und Ost, zwischen Gut und Böse. Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen. Die anderen, das sind die Russen und die Chinesen.

Ich glaube das nicht. Ich halte diese Sicht für eine verführerische optische Täuschung. Verführerisch ist sie, weil sie der eigenen Seite schmeichelt, indem sie die andere herabsetzt. Verführerisch ist sie auch deshalb, weil sie den Blick auf eigene Fehler vernebelt, das eigene Versagen adelt und allein den anderen für die Probleme verantwortlich macht, die wir gemeinsam lösen müssen.

Noch nie in den letzten hundert Jahren waren sich die USA, China und Russland trotz allen Unterschieden näher. Es ist einfach falsch, so zu tun, als lägen hier systemische Unverträglichkeiten vor, existenzielle Gegensätze, die nur dadurch zu überwinden sein sollen, dass der andere so wird, wie wir ihn gerne haben wollen. Das sind gefährliche Zerrbilder der Gegenwart.

Unterschiedliche Zivilisationen haben tiefverwurzelte politische Kulturen. Diese Kulturen sind Tatsachen, Wirklichkeiten. Sie haben eine lange Geschichte, sie haben sich mit der Zeit gewandelt, sie prägen aber und sind Ausdruck unterschiedlicher Institutionen und Einstellungen; nationale Charaktereigenschaften, die nicht unwandelbar, aber aus meiner Sicht zu respektieren sind.

Das China von Xi Jinping trägt augenscheinlich Züge eines modernisierten chinesischen Kaiserreichs. Oben thront der Monarch, umgeben von einer Legion hervorragend ausgebildeter Mandarine, hochprofessionellen Staatsdienern, geschult an den besten amerikanischen Universitäten, ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein einer fähigen bürokratischen Elite.

Auf der anderen Seite haben wir Russland. Man muss kein Experte sein, um in Putin einen modernen Zaren zu erkennen, verhaftet in einer Tradition autoritärer Herrschaft, verehrt von einer ihm dankbar ergebenen orthodoxen Kirche, von seinen Landsleuten als starker Führer respektiert (und am Leben), solange er in ihren Augen Sicherheit, Wohlstand und nationales Ansehen garantiert.

Russland und China haben andere Traditionen und historische Erfahrungen als die Vereinigten Staaten oder die Länder Kontinentaleuropas, als Grossbritannien, eine vorbildliche konstitutionelle Demokratie, die allerdings im 19. Jahrhundert mit bemerkenswerter Brutalität, wenn auch nicht nur, erhebliche Teile unseres Planeten als Kolonien unterjochte.

Vergessen wir nicht, dass die Briten vor noch gar nicht allzu langer Zeit Kriege anzettelten, um den Chinesen gegen den Willen ihrer Regierung die tödliche Rauschdroge Opium zu verkaufen. Die Amerikaner, Krone der westlichen Zivilisation nach eigenem Empfinden, haben ihre Interessen mit Atom-, Brand- und bunkerbrechenden Bomben auf vielen Kontinenten durchgesetzt.

Damit will ich nur sagen, dass der Westen nie von Heiligen regiert wurde, genauso wenig wie der Osten nur von Schurken. Ich glaube, wir müssen der Versuchung widerstehen, die Welt in jene moralischen Kategorien zu sortieren, aus denen nur Feindbilder und Fronten entstehen. Es ist so leicht, sich in Kriege hineinzusteigern – und so viel schwerer, wieder herauszukommen.

Ich weigere mich, an diesem neuen eingebildeten Weltkrieg West gegen Ost, Demokratie gegen Autokratie, teilzunehmen. Ich stelle bei mir eine starke Neigung zum bewaffneten, verteidigungsbereiten Pazifismus im Zeichen der Neutralität fest. Ich fühle mich genötigt, den Hasspredigern auf unserer, auf der westlichen Seite vehement zu widersprechen.

Eben wurde an der Buchmesse Frankfurt der «Friedenspreis» einem ukrainischen Schriftsteller überreicht, der die Russen als «Unrat», als «Horde», als «Schweine» bezeichnet, die «in der Hölle schmoren» mögen. Ich mache dem Autor, Betroffener dieses Kriegs, keinen Vorwurf, aber ich frage mich, was mit einer deutschen Literatur- Jury los ist, die diesen Wortgebrauch mit einem Friedenspreis belohnt.

Worte sind auch Waffen. Wo sich die Sprache enthemmt, enthemmen sich früher oder später die Taten. Wir müssen unsere Wortarsenale wieder abrüsten, auch im Westen. Wir müssen aussteigen aus der Rechthaberei, herunterkommen von der eigenen, auch verlogenen Hochmoral. Wir müssen wieder lernen, mit den Augen der anderen auf die Welt zu blicken.

China, Russland, Amerika, Afrika, Europa. Die Wahrheit ist: Die grossen Zivilisationen rücken einander näher, befruchten sich, sind wirtschaftlich dank dem Freihandel verflochtener, voneinander abhängiger und damit auch verwundbarer denn je. Wir haben nur einen Planeten und viele Probleme: Umweltzerstörung, Hunger, Armut. Es braucht Zusammenarbeit, nicht Krieg.

Das 20. Jahrhundert war ein Albtraum. Ost und West standen sich in ideologischer Todfeindschaft gegenüber. Diese Zeit ist überwunden. Auch die Russen und die Chinesen haben, wie die Deutschen, aus ihrer Geschichte gelernt. Die Zukunft bietet gewaltige Chancen. Mit der Albtraumbrille der Vergangenheit werden wir sie übersehen. Wir müssen zurück zur friedlichen Koexistenz.

R.K.

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