Weltwunder Christentum
uerst wollte ich hier über den Niedergang des Westens schreiben. Ich hatte den Artikel fast fertig, doch das düstere Thema behagte mir nicht. Also habe ich nochmals angefangen. Wir lesen zu viele Abgesänge, es braucht mehr Erbauliches. Statt die Leute dauernd darauf aufmerksam zu machen, was falsch läuft, sollte man sich stärker mit dem Guten, mit dem Erfolg befassen.
Eine der grössten Erfolgsgeschichten der Menschheit ist das Christentum. Ich schreibe das als nicht besonders religiöser Mensch. Eigentlich misstraue ich der Religion. Religion kommt von Bindung. Dieser Begriff stellt mir den Menschen zu sehr in den Vordergrund. Religiöse Menschen neigen zum Glauben, sie hätten eine Standleitung zum Allerhöchsten. Allzu «religiöse» Menschen laufen Gefahr, von Gott zu reden, aber sich selber zu meinen.
Das Christentum ist die grösste Revolution, die es je gegeben hat. Es war eine Revolution, die nicht mit einem Urknall, mit einem Weltkrieg, mit einem Palaststurm begann. Es war eine stille Revolution des Geistes, im Innersten des Menschen, die sich abseits der Paläste ereignete, zunächst unmerklich, dann unwiderstehlich. Weltreiche fielen vor der Macht des Christentums, weil sie sich der Macht des überlegenen Gedankens beugen mussten.
Ich will hier die Verbrechen, die im Namen des Christentums begangen wurden, weder weg- noch schönreden. Menschen haben die unangenehme Angewohnheit, auch das Beste und Schönste zu verseuchen. Doch nichts, was an Gräueltaten unter dem Kreuz verübt wurde, wäre auch nur im Entferntesten geeignet, das Gute zu überlagern, das durch das Christentum auf und über die Welt gekommen ist.
Warum ausgerechnet jetzt dieser Artikel? Weihnachten ist noch weit weg. Ich habe kürzlich zwei Bücher gelesen. Eines handelte von der Geschichte des Trojanischen Kriegs. Das andere würdigte den «Sieg des Abendlandes». Der Autor Rodney Stark, Professor für Religionssoziologie, selber Agnostiker, beschreibt schlüssig den mir in dieser Art bis dahin überhaupt nicht bewussten Zusammenhang zwischen Christentum und Freiheit.
Ohne das Christentum, und jetzt rede ich nicht von der «protestantischen Ethik» nach der Reformation, ohne das ursprüngliche – nennen wir es das katholische – Christentum gäbe es den Westen, gäbe es die Moderne, gäbe es Shakespeare, Goethe, die Wissenschaft, technischen Fortschritt, den Freihandel, gäbe es die Marktwirtschaft und damit unseren Wohlstand nicht. Das klingt steil, ist aber wahr.
Wie lautete die wichtigste Erfindung des Christentums? Nein, es ist nicht die Idee eines einzigen gütigen Gottes. Es ist die Erfindung, sagen wir besser: die Entdeckung des freien Willens. Ohne das Christentum gäbe es den westlichen Individualismus nicht, die Idee, dass der Mensch nicht erst als Teil einer Gemeinschaft, sondern als Mensch aus sich selbst seinen unschätzbaren Wert erlangt.
Auf den wir uns allerdings, weil wir ihn mit allen teilen, nicht allzu viel einbilden sollten.
Was hat der Trojanische Krieg damit zu tun? Sehr viel. Die Mythenwelt der alten Griechen war das Gegenteil des Christentums. Sie wurde bevölkert von grossartigen Helden und faszinierenden Charakteren, doch aus christlicher Sicht verbindet sie ein folgenschwerer Makel: Sie alle sind Sklaven, Statisten, Gefangene ihres Schicksals.
Egal, was Achilles, Hektor, Paris oder Agamemnon an Heldentaten oder Schurkereien vollbringen, an ihnen vollzieht sich mit kalter Wucht die Macht des Schicksals, das Walten der Götter und ihrer Prophezeiungen. Ihre Handlungen zählen nicht. Sie erfüllen ihre Bestimmung. Oder fallen ihr zum Opfer.
Dagegen steht Shakespeare, dieser christliche Gigant. In seinem Drama «Julius Cäsar» sagt Cassius zu Brutus: «Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in den Sternen. Er liegt in uns selbst.» Oder, in den Worten des Kirchenvaters Augustinus: «Wir haben einen freien Willen, und daraus folgt, dass, wer auch immer rechtschaffen zu leben wünscht, dies auch erreichen kann.»
Die Entfesselung des freien Willens ist die weltumwälzende Revolution, der zentrale Sprengstoffgedanke des Christentums. Sie befreite den Menschen aus den Fängen des Schicksals, um ihm eine noch viel grössere Last aufzubürden: die Last seiner eigenen Verantwortung. Es gab keine Götter mehr, über die er sich hätte beschweren können. Fortan konnte er niemand anders beschuldigen als sich selber.
Aber noch viel mehr. Ich habe einen freien Willen, und ich denke, also bin ich. Dieser Satz stammt nicht vom grossen Aufklärer Descartes. Viele Jahrhunderte vorher hat ihn bereits der schon erwähnte Augustinus ausgesprochen, allerdings nicht in der Auseinandersetzung mit der Wahrheit, sondern mit dem Irrtum: «Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich natürlich nicht täuschen; und demnach bin ich, wenn ich mich täusche. [. . .] Denn so gut ich weiss, dass ich bin, weiss ich eben auch, dass ich weiss.»
Urknall der Philosophie im Mittelalter: Ohne die Kirchenväter, ohne die Christen hätten wir keine Wissenschaft. Die Basler Chemie wäre nie entstanden.
Das Christentum ist viel wichtiger, als wir alle glauben. Im Christentum stecken Schätze von Wahr- und Weisheiten, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Wir laufen Gefahr, sie zu vergessen.
Der Westen im Niedergang? Ganz bestimmt. Amerika schwankt. Die EU ist eine Ruine auf dem Schuldensumpf, Opfer ihrer Illusionen. Die Schweiz bemüht sich, dem Sog zu widerstehen.
Kann uns nur noch ein Gott retten, wie Martin Heidegger, der enttäuschte Katholik, einst finster orakelte? Gerade nicht. Die tröstliche Botschaft des Christentums lautet: Der Fehler liegt nicht in den Sternen. Unsere Rettung, die Lösung sind wir selbst.
R.K.