Weltwoche Kommentar 43/20

Kommentar

Angst und Augenmass

D

er Mensch ist nicht das Mass aller Dinge. Die Natur ist stärker als der Mensch. Immer noch. Das sind zwei Erkenntnisse nach bald einem Jahr Corona. Mikroskopisch kleine Erreger können die mächtigsten Staaten der Welt aus der Bahn werfen. Das Virus trickst aber auch die Wissenschaften aus. Noch gibt es unter den Forschern keinen Konsens, wie man der neuartigen Seuche am wirksamsten begegnen, was man von ihr halten soll.

Die Politiker werden von den Experten bedrängt, im Dunkeln tappend, Allwissen vorspielend, Anordnungen befehlend. In den Medien dominiert der Sound des Alarms. Wir vermuten, dass die meisten Menschen bereits ihren persönlichen Corona-Filter installiert haben. Man führt sein Leben. Man versucht, nicht krank zu werden. Man hört auf, die Zeitungen zu lesen, und erträgt die Massnahmen und Zumutungen der Politik mit grimmiger Gelassenheit.

Auf der anderen Seite rätseln viele, wie gefährlich das Virus ist. John Ioannidis von der Stanford University hat auf Grund umfangreicher Daten errechnet, dass von den über siebzigjährigen Infizierten 0,23 Prozent sterben. Das Todesrisiko bei unter siebzigjährigen Covid-Angesteckten liegt bei lediglich 0,05 Prozent. Das bewegt sich in der Bandbreite der unterschiedlich gravierenden Grippe-Epidemien der letzten Jahre. Die neue Stanford- Studie nennt Covid «weitaus weniger tödlich als angenommen».

Das durchschnittliche Todesalter bei Schweizer Frauen beträgt 86 Jahre, jenes bei Männern 83 Jahre. Beides liegt damit ein Jahr über der durchschnittlichen Lebenserwartung in der Schweiz. 84 Prozent dieser Covid-Toten hatten mindestens eine ernsthafte Vorerkrankung wie hoher Blutdruck, Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs oder Diabetes.

Sicher kann man sagen, dass viele staatliche Massnahmen angesichts der Gefährlichkeit von Covid-19 unverhältnismässig waren. Namhafte Mediziner und Epidemiologen behaupten allerdings, ohne Lockdowns etc. wären weitere Millionen von Corona weggerafft worden.

Gleichzeitig lesen wir, die Tödlichkeit des Erregers nehme laufend ab und es gebe immer bessere Behandlungen. Die vielen anfänglichen Toten hätten wohl auch mit einem zu häufigen Intubieren zu tun. Es stimmt, dass Langzeitschäden bei Covid-19 vorkommen, aber es gibt sie eben auch bei anderen Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündungen. Haben wir wenigstens bei den Masken eindeutige Erkenntnisse? Leider nein. Länder wie Spanien mit der strengsten Maskenpflicht haben steigende Rekord-Testzahlen.

Am wichtigsten ist jetzt, dass der Bundesrat keinen Lockdown bringt. Es würde mehr schaden als nützen.

Was machen? Die einen predigen «fokussierten Schutz». Sie sagen, man müsse nur die besonders Gefährdeten abschirmen. Alle anderen sollen sich anstecken, ein normales Leben führen. Namhafte Wissenschaftler unterschreiben diese Strategie. Ebenso prominente Forscher aber warnen, eine «kontrollierte Durchseuchung» werde in die unkontrollierte Katastrophe führen. Beide Lager vertreten ihre Meinung wie eine letzte Wahrheit.

Irgendwo dazwischen taumelt die Politik. Die Linke setzt auf mehr staatliche Einschränkungen. Die Rechten versuchen, gewisse Freiräume offenzuhalten. Eine magische Lösung ist nicht in Sicht. Man wurstelt sich durch und wird das unheimliche Virus bis zum Eintreffen eines Impfstoffs irgendwie durchstehen, «durchseuchen» müssen wie das Drüsenfieber in der Jugend. Angesichts steigender Testzahlen im Herbst ziehen jetzt viele Regierungen die Schraube wieder an mit Lockdowns, Ausgangssperren und mit dem Verbot von Menschenansammlungen.

Der Bundesrat geht mit seinen jüngsten Massnahmen einen Mittelweg zwischen Angst und Augenmass. Das ist nicht unvernünftig. Natürlich kann man Details kritisieren. Die Erklärung der eigenen Strategie – warum machen wir was? – kommt zu kurz. War eine Sondersitzung am Sonntag wie im Krieg angesichts der Harmlosigkeit des Verkündeten notwendig? Trotzdem. Die Regierung hat sich von der rundherum aufbrausenden Herbst-Panik nicht anstecken lassen. Eine unrühmliche Rolle spielen die Medien, die jeden neuen Covid-Testfall zum politischen Totalversagen ausrufen. Am wichtigsten ist jetzt, dass der Bundesrat keinen Lockdown verfügt, weil es mehr schaden als nützen würde.

R.K.

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