Weltwoche Kommentar 42/21

Kommentar

Grossbritannien steht noch

London

D

ieser Tage bereise ich das Vereinigte Königreich. Ich bin unterwegs mit einer Gruppe von Schweizer Parlamentariern, alle Parteien. Die Mehrheit ist gegen den Brexit. Die Sympathien für Premier Boris Johnson halten sich in Grenzen. Im Unterschied zu mir sind auch die meisten für eine engere Anbindung der Schweiz an die Europäische Union. Man kann sich also vorstellen, wie scharfäugig meine Kollegen Ausschau halten nach allem, was sie in ihrer Ansicht bestätigt, mit Brexit-Britannien gehe es nach dem EU-Ausstieg den Bach runter.

Die erste Überraschung folgt bereits kurz nach dem Auschecken: London steht noch. Grossbritannien ist weder im Kanal versunken, noch ist es von einem schwarzen Loch politischer Antimaterie verschlungen worden. Wir sehen keine kilometerlangen Warteschlangen vor den Tanksäulen. Der Strassenverkehr schleppt sich, ein Ärgernis wie immer, in quälender Zeitlupe dahin. Alle Geschäfte sind geöffnet, von einem Gütermangel keine Spur. Macht sich erste Enttäuschung breit unter den zugereisten Schweizern, von denen einige fest mit der Apokalypse gerechnet hatten?

Gut, man sieht verwaiste Bürohäuser. Das aber ist keine Brexit-Folge, sondern das Resultat der früheren Lockdown-Home-Office-Politik der Behörden. Seit Juli ist mit den meisten Massnahmen fertig. Es gibt strenge Einreisebestimmungen. Aber im Inland herrscht Freiheit: kaum Masken, keine Zertifikate, Restaurants sind uneingeschränkt offen, ebenso Theater und Sportstadien. Unser Gastgeber, Botschafter Markus Leitner, seit kurzem in der britischen Hauptstadt, davor vier Jahre in Teheran, hat ein interessantes Programm zusammengestellt. Begeistert berichtet er auf der Fahrt vom Besuch einer bis zum letzten Platz gefüllten Mozart-Oper.

Nehmen wir das Wichtigste vorweg: Die Katastrophenberichte über den Brexit-bedingten Zusammenbruch Grossbritanniens können Sie vergessen. Sie stimmen nicht, sind Ausdruck des unzerstörbaren Vorurteils unserer Journalisten, dass Boris Johnson ein lächerlicher Clown ist und der Volksentscheid der Briten, sich von der EU scheiden zu lassen, ein populistischer Akt der Dummheit. An diesem Befund darf nicht gerüttelt werden. Gegen alle Fakten und wider besseres Wissen.

Der Chef einer grossen Schweizer Firma schüttelt beim Abendessen nur den Kopf. Weder habe es in Grossbritannien einen Mangel an Benzin gegeben, noch seien die Weihnachtsgeschenke für die Kinder in Gefahr. Er spricht von einer medialen «Hysteriespirale». Natürlich sei die Weltwirtschaft nach anderthalb Jahren Zwangsentschleunigung aus dem Gleichgewicht. Man könne eine Ökonomie nicht auf null herunterbremsen und dann innert weniger Wochen wieder auf den früheren Betriebsrhythmus hochfahren. Die Nachfrage ziehe derzeit, verständlich, einfach schneller an, als das Angebot mithalten könne. Das werde sich bald einpendeln. Über den Weltuntergangsenthusiasmus der Medien könne er nur zynisch lächeln.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse nach den ersten Londoner Gesprächen?

Erstens: Der Brexit ist durch, unter den Briten ist er kein Thema mehr. Niemand will ihn rückgängig machen. Keine Partei möchte in die EU zurück. Würden die Briten nochmals abstimmen, sagen unabhängig voneinander mehrere Gewährsleute, fiele das Votum noch deutlicher für den Ausstieg aus. Gestritten werde nur noch darüber, ob der Brexit von der Regierung gut oder schlecht gemanagt werde.

Zweitens: Boris Johnson schwingt in den Meinungsumfragen obenaus. Er ist ein Rockstar der Politik, beliebt wie nie, noch beliebter als seine Partei und das unbestrittene Sympathie- Zugpferd der Konservativen. Wie lange noch wollen sich unsere Medien gegen diese Wirklichkeit auflehnen? Die Briten scheinen Johnson zu mögen. Natürlich hören wir auch Kritik, lächelnde Süffisanz für den unkonventionellen Regierungschef, aber der Respekt ist gross. Wäre Britannien so schlecht dran, wie unsere Medien säuerlich verlautbaren, warum steht dann der Verursacher des angeblichen Grauens so weit oben in der Gunst des Publikums?

Drittens: Die Konservativen sind im Begriff, sich in den früher linken Hochburgen des Nordens auf Dauer festzusetzen. Unter Johnsons Regie scheinen sich die Tories von der Honoratioren- und Eliten- zur liberalkonservativen Volkspartei zu wandeln. Verzweiflung macht sich breit bei den Linken, trotz einem munteren neuen Vorsitzenden.

Viertens: Die Nordirlandfrage wird von Brexit- Kritikern hochgespielt. Weder die EU und schon gar nicht Grossbritannien haben Interesse an einem Grenzkonflikt. Irland ist in der EU, Nordirland ist draussen. Das ist etwas knifflig, aber was will Brüssel tun? Truppen senden? Eine Mauer bauen an der inneririschen Grenze, einen Schutzwall für den Binnenmarkt? Das wäre politischer Selbstmord. Man wird eine pragmatische Lösung finden.

Fünftens: Es stimmt. Grossbritannien muss seine aussenpolitische Rolle nach dem Brexit erst noch finden. Es rumpelt ein bisschen. Das einstige Weltreich hatte mit der EU lange Zeit ein kleines Ersatz-Imperium, das fällt nun weg. Die Briten können politisch nicht mehr über ihrer eigenen Gewichtsklasse boxen. Dafür stehen sie ehrlicher da. Man ist, was man ist, eine militärisch nicht unbedeutende Atommacht, wirtschaftlich die Verkörperung des Freihandels mit einer eigenen starken Währung. Ich bin zuversichtlich, sehr sogar, viel zuversichtlicher für Grossbritannien als für die überhebliche EU, die in den Medien viel zu gut wegkommt, was die Überheblichkeit noch fördert.

R.K.

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