Weltwoche Kommentar 42/20

Kommentar

Die Schweiz ist interessant

W

ährend sich das Coronavirus ausbreitet, die meisten Regierungen überfordert wirken und die Spannungen international so gross scheinen wie selten, mehren sich in der Schweiz die Zweifel an einem institutionellen Rahmenabkommen mit der Europäischen Union (InstA). Das ist ein interessanter Vorgang. Es heisst, in Krisenzeiten würden die Kleinen Schutz und Anlehnung suchen bei den Grossen. Für die Schweiz scheint beim Rahmenvertrag das Gegenteil zu passieren: Man besinnt sich auf die eigene Stärke der Unabhängigkeit.

Diese Stimmungswende ist bemerkenswert. Noch vor fünf Jahren hielten führende Medien und die meisten Parteien das Rahmenabkommen für eine Fata Morgana der SVP. Den beiden Politveteranen Christoph Blocher und Ulrich Schlüer aber gelang es durch weitsichtige Aufklärung, über ihre Partei hinaus immer mehr Leute für die Gefahren dieses Abkommens zu sensibilisieren. Mittlerweile scheint sich von rechts bis links ein Konsens zu bilden, dass die Schweiz diesen Vertrag nicht unterzeichnen darf.

Alle gegen das Rahmenabkommen

Widerstand kommt aus der Politik, aber auch aus der Wirtschaft. Die Gewerkschaften sind dagegen, weil sie gespürt haben, dass die Schweiz unter dem EU-Rahmen ihre Sozialpolitik nicht mehr selber bestimmen darf. Der frühere SP-Preisüberwacher Rudolf Strahm kritisiert immer eloquenter, wie sich die Schweiz mit dem InstA dem Europäischen Gerichtshof unterstellen würde. Gemäss Vertragstext wären die Urteile der fremden EU-Richter für die Schweiz «verbindlich». Was Strahm für einen Irrweg hält.

Viel zu reden gegeben hat die für seine Verhältnisse vernichtende Kritik des früheren FDP-Bundesrats Johann Schneider-Ammann am Rahmenabkommen in der NZZ. Eigentlich waren die Freisinnigen (und die NZZ) bisher die grössten Verteidiger der institutionellen Anbindung. Auch diese Front bröckelt. Unterstützung bekommt Schneider-Ammann von einflussreichen Wirtschaftskreisen, darunter die Westschweizer Uhrenindustrie oder, aus der Finanzwelt, die supererfolgreichen «Partners Group»-Unternehmer um Alfred Gantner in Zug.

Der Bundesrat droht von den Ereignissen überrollt zu werden. Dossierverantwortlicher ist Aussenminister Ignazio Cassis. Der Taktiker aus dem Tessin offenbart gegenüber dem InstA eine Haltung des skeptischen Wohlwollens. Begeisterung bringt auch er keine auf. Bis vor kurzem lautete eines seiner wichtigsten Argumente, die institutionelle EU-Anbindung würde besonders in einer von geopolitischen Konflikten durchgeschüttelten Welt der Schweiz mehr Schutz und mehr Sicherheit verschaffen.

Momente der Wahrheit

Die jüngsten Entwicklungen allerdings belegen das Gegenteil: Gerade in Krisenzeiten lässt die Neigung, bei einem Grossen unterzukriechen, in der Schweiz merklich nach. Und heftig ist die Krise ohne Frage: In den USA tobt ein brutaler Wahlkampf. Die Stimmung gegenüber China kühlt sich ab. An den Rändern Europas brodelt der Volkszorn. Das Coronavirus droht die Welt in einen wirtschaftlichen Abgrund ungeahnter Art zu stürzen. Ausgerechnet jetzt aber treten in der Schweiz die Verteidiger der Unabhängigkeit hervor.

Krisenzeiten sind Momente der Wahrheit. Sie machen deutlich, wer man ist. Die Verlierer sprachen von «Dekadenz», nachdem eine Mehrheit kürzlich die SVP-Begrenzungsinitiative abgelehnt hatte. Vielleicht war die frustrationsgetriebene Deutung verfrüht. Der wachsende Widerstand gegen das Rahmenabkommen zeigt, dass starke freiheitliche Reflexe der Eigenständigkeit intakt und gesund geblieben sind. Traut man den jüngsten Signalen, muss man sich um die Schweiz diesbezüglich keine allzu grossen Sorgen machen.

Weltoffen, aber selbstbestimmt

Was sich abzeichnet, ist ein vernünftiger, bewährter Mittelweg. Die Schweiz schottet sich nicht von der EU ab. Die Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit endete mit einem Bekenntnis für einvernehmliche Zusammenarbeit. Gleichzeitig manifestiert sich verschärft das Unbehagen an einer stärkeren institutionellen Einbindung, die von vielen als Vereinnahmung empfunden wird. Vielleicht wirkt das Nein zur Begrenzungsinitiative in dieser Hinsicht befreiend. Man kann nun unbeschwerter gegen das Rahmenabkommen sein.

Faszinierend ist, wie die Schweiz bezeichnenderweise immer dann, wenn die Aussichten am düstersten scheinen, das Bewusstsein ihrer Unabhängigkeit entdeckt. Die direkte Demokratie, die im Ausland oft als «populistisch » abgetan wird, produziert dabei nuancierte, differenzierte Entscheide. Politiker neigen zur Radikalität, Volksentscheide mässigen. Und in der Schweiz scheint man sich gerade dann, wenn vieles «zunderobsi» geht, fast wundersam auf den Wert eines weltoffenen, aber selbstbestimmten Wegs zu einigen.

R.K.

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen