Weltwoche Kommentar 41/20

Kommentar

Die Schweiz, die Kolonien, die Sklaverei

E

ine Studie der Universität Zürich gibt zu reden. Sie stellt die Behauptung auf, dass die Stadt Zürich auf vielfältige Weise in die Sklaverei und in den Kolonialismus «verstrickt » gewesen sei. Speziell im Fokus ist die Familie des freisinnigen Eisenbahnbarons Alfred Escher. Die rot-grüne Stadtregierung hat sogleich eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie überprüft insgesamt achtzig Denkmäler. Wie in den USA könnten einzelne Standbilder abmontiert, auf den Abfall entsorgt werden.

Auf den ersten Blick wirken solche Aktionen gar nicht so unvernünftig. Die meisten Schweizer Schüler und Studenten sind der Meinung, dass der Kolonialismus eine schlimme Sache war und die Sklaverei ohnehin. Viele dürften von ihren Lehrern auch mitgeteilt bekommen haben, dass der Westen – zu dem die Schweiz fraglos gehört – einen Grossteil seines Wohlstands nicht auf Demokratie, Wissenschaft und Marktwirtschaft errichtet hat, sondern auf der systematischen Ausbeutung und Versklavung nichtwestlicher Gesellschaften.

Üble Verbrechen

Tatsächlich gibt es keinen Zweifel, dass sich der Westen in seiner Geschichte schlimmster Verbrechen schuldig machte. Es gab Unterdrückung und Ausbeutung. Das Übel der Sklaverei wurde nicht nur praktiziert, sondern von einigen der fähigsten westlichen Denker sogar als moralische Notwendigkeit geradezu verherrlicht. Allerdings lassen sich so weder die grossen wirtschaftlichen Erfolge des Westens erklären, noch wird man seiner Geschichte gerecht mit dieser einseitigen Sicht.

Ich hatte vor Jahren eine gute indische Kollegin. Ihr Grossvater hatte noch den Kolonialismus erlebt und sehr darunter gelitten. Leidenschaftlich habe er die Briten gehasst. Sie konnte das verstehen. Trotzdem sah sie es differenziert. Ohne die Briten, erklärte sie, hätte Indien heute vermutlich keine Demokratie, keinen Rechtsstaat, wären ihre Eltern nie in die Schweiz gekommen und hätte sie, als Frau, kaum die Chance gehabt, im Westen zu studieren und einen Mann ihrer Wahl zu heiraten.

Kein Missverständnis: Natürlich war der Kolonialismus schlimm für die Leute, die ihn erleiden mussten. Selbstverständlich hatten viele der Kolonisatoren keine guten Motive. Aber wahr ist eben auch, dass die Kolonialmächte gegen ihre Absichten viele westliche Errungenschaften in die von ihnen kolonialisierten Länder eingeführt haben, von denen die Nachkommen des Kolonialismus enorm profitiert haben. Nicht zuletzt die westliche Idee der Freiheit, auf die sich antikolonialistische Freiheitskämpfer wie Mahatma Gandhi berufen sollten.

Der Boxer und das Sklavenschiff

Eine tiefsinnige Beobachtung zum Thema lieferte der schwarze Boxer Muhammad Ali, als er nach seinem WM-Sieg gegen George Foreman 1974 in Kinshasa auf die Frage, was er über Afrika denke, mit der Antwort verblüffte: «Gott sei Dank kam mein Grossvater auf dieses Sklavenboot.» Die Reporter missverstanden es als schlechten Witz, als Verharmlosung. Alis Punkt aber war, dass er niemals der reichste und berühmteste Boxer der Welt geworden wäre, wenn man seinen Grossvater nicht als Sklaven in die USA verschleppt hätte.

Gewiss: Die Sklaverei war ein schlimmes Verbrechen. Die Betroffenen litten unbeschreiblich. Aber die Sklaven sind tot, und ihren Nachkommen geht es viel besser auch deshalb, weil es die Sklaverei gegeben hat. Sonst nämlich, so Alis Gedanke, wären er und andere niemals in den USA aufgewachsen, sondern in Nigeria oder im Kongo mit weit geringeren Erfolgsaussichten. «Die Sklaverei ist der Preis, den ich für die Zivilisation bezahlte, und das wiegt alles auf, was ich über meine Vorfahren dafür bezahlen musste», schrieb die afroamerikanische Schriftstellerin Zora Neale Hurston.

Womöglich werden solche Sätze heute in die Richtung verdreht, man wolle Sklaverei und Kolonialismus beschönigen. Doch darum geht es nicht. Das Argument ist, dass der Kolonialismus und die Sklaverei gegen die eigennützigen Absichten ihrer Anwender auch Millionen von Menschen mit der westlichen Zivilisation, mit Medizin, mit Demokratie und Freiheit, mit Gleichheit und Fortschritt in Verbindung brachten. Wer die Geschichte verstehen will, darf solche Aspekte nicht ausblenden.

Warum Linke Statuen abreissen wollen

Mein Verdacht ist, dass die Leute, die heute angeblich wegen der Sklaverei Denkmäler wie das von Escher abreissen wollen, gar nicht die Geschichte «aufarbeiten», sondern die Geschichte vielmehr missbrauchen wollen, um ganz andere politische Ziele zu verfolgen. Hinter der Debatte über die Sklaverei auch in der Schweiz steckt oft die schlechtversteckte Absicht, westliche Errungenschaften wie Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie insgesamt als verlogen und als verbrecherisch zu diskreditieren, um sie durch etwas anderes zu ersetzen.

Dass die Denkmalstürzer von links aussen kommen, überrascht nicht. Beunruhigender ist, dass ihr Anliegen, wie die Stadt Zürich zeigt, inzwischen bis weit in die rot-grüne, ja bürgerliche Mitte Anklang findet.

R.K.

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