Weltwoche Kommentar 40/22

Kommentar

Die Sprengung Europas

D

er mutmasslich staatsterroristische Anschlag auf die beiden Ostsee-Pipelines aus Russland rückt die Welt näher an einen Atomkrieg, der die Menschheit auslöschen könnte. Wer auch immer die Untat verübte: Sie ist ein Hammerschlag gegen vitale europäische Infrastrukturen, ein Axthieb auf wirtschaftliche Lebens- und Versorgungsadern, eine Kriegserklärung an Europa und, vor allem, an Deutschland.

Die beiden Gasleitungen standen bildmächtig für die intensivierte Wiederaufnahme uralter Beziehungsfäden zwischen Europa und Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Mit den Pipeline-Sprengungen ist eine neue unsichtbare Trennwand, ein wirtschaftlicher Todesstreifen zwischen West und Ost hochgezogen worden. Brutal reisst sie Russland und Europa wieder auseinander. Hoffnungen auf eine Gas-Diplomatie zur Entschärfung des Kriegs sind dahin.

Am schwersten getroffen an ihren beiden Röhren und damit komplett ausser Gefecht ist Nord Stream 1, ein russisch-europäisches Partnerprojekt. Im Abstand von fünf Kilometern sind am Montag, dem 26. September, zeitgleich um ungefähr 19 Uhr MEZ zwei Sprengungen durchgeführt worden, eine in dänischen Hoheitsgewässern, eine auf schwedischem Gebiet, was allfällige Untersuchungen und forensische Forschungen aus logistisch-bürokratischen Gründen erschwert.

Die andere, aufgrund ihrer exklusiven russischen Eigentümerschaft sanktionierte Nord-Stream- 2-Pipeline ist ebenfalls Opfer einer Doppelsprengung geworden. Allerdings traf diese zweimal die gleiche Röhre, so dass die Pipeline mit einem intakten Kanal theoretisch noch funktionsfähig wäre. Wahrscheinlich haben die Attentäter versucht, auch diese Gasleitung vollständig auszuschalten, sind aber bei ihrem Vorhaben um zwei Uhr morgens am Montag gescheitert.

Das in Zug domizilierte Nord-Stream-1-Management hat umgehend seine Bereitschaft erklärt, im Rahmen einer auch internationalen Mission die Schäden zu untersuchen. Für das schwedische Leck ist keine Bewilligung nötig, für die dänischen Gewässer allerdings schon. Obwohl die Nato «entschlossene Aufklärung» versprach, stehen die Nato-Dänen auf der Bremse. Sie brauchten eine Woche, um das Nord-Stream- Gesuch hinauszögernd zu beantworten. Ein Bürokratie-Kleinkrieg droht.

Wer kann es gewesen sein? Laut Militärexperten waren angesichts der betonummantelten Stahlröhren pro Explosion bis zu 500 Kilo TNT nötig. Aktionen dieser Art seien nur professionellen Akteuren zuzutrauen. Der US-Colonel und ehemalige Regierungsberater Douglas Macgregor nannte die US-Navy und die britische Marine. Ausserdem ist das Baltische Meer eine von der Nato lückenlos überwachte Zone im Kriegszustand. Kaum vorstellbar, dass sich da jemand unerkannt einschleicht.

In westlichen Zeitungen kursiert die Theorie, befeuert von den Ukrainern, es seien die Russen selbst gewesen, die in Sowjetmanier ihre milliardenteure Gas-Infrastruktur, die ihnen Unmengen an Devisen ins Land spülte, in die Luft jagten analog zu verminten Brücken im Bodenkrieg. Denkbar ist alles, aber im Unterschied zu einer Brücke, die ein Feind nutzen kann, hätte Russland jederzeit die Röhren verriegeln und unbenutzbar machen können, eine Sprengung erscheint da unnötig.

Ausserdem müsste man zu recht abenteuerlichen Theorien greifen, um die These plausibel erscheinen zu lassen, dass Präsident Putin ausgerechnet einen wirksamen Hebel, sein Faustpfand und Druckmittel, aber auch seine lockende Quelle an günstiger Energie just in jenem Moment zerstört, da in Deutschland die politische Stimmung zu kippen drohte und immer mehr Leute aus Angst vor Hunger und Kälte ein Ende der Sanktionen und eine diplomatische Lösung des Konflikts einforderten.

Polens früherer Aussenminister Radoslaw Sikorski, unversöhnlicher Anti-Russland-Falke, dankte in einem Tweet mit einem Bild des ins Meer blubbernden Nord-Stream-Gases nach dem Anschlag den USA. Das löste wilde Spekulationen aus. Tatsache ist, dass US-Präsident Biden und die prominente Mitarbeiterin des Aussenministeriums, Victoria Nuland, im letzten Januar und Februar erklärt hatten, die Russenröhren zu stoppen, sollte Putin einmarschieren.

Das sind keine Beweise, und das Weisse Haus dementiert inzwischen aufs Bestimmteste. Trotzdem breitet sich in der EU, vor allem in Deutschland ein fürchterlicher, unausgesprochener Verdacht aus. Unter allen Mächten hätten die USA das womöglich grösste Interesse an einer Demolierung der Leitungen. Sie profitieren jedenfalls davon, auch wirtschaftlich. Den Amerikanern war die freundschaftliche russisch-deutsche Verbindung seit langem und nachweislich ein Dorn im Auge. Man befürchtete wohl die Wiederauferstehung einer jahrhundertealten Allianz, einer neuen europäisch- russischen Eurasien-Achse ausserhalb der transatlantischen Sphäre.

Diese Bestrebungen sind nun brachial gestoppt worden. Die Nord-Stream-Sprengung ist auch eine Art Sprengung Deutschlands, eine Sprengung europäischer Hoffnungen auf mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber den USA. Gefühle der Ohnmacht breiten sich aus. Viele Deutsche haben den Eindruck, sie seien Opfer, Spielball von Mächten, die sie nicht beeinflussen können. Die dunkle Ahnung, die amerikanischen Freunde, die Bundesgenossen könnten dahinterstecken, erzeugt den fauligen Geruch des Ressentiments und der Verzweiflung. Unabhängige Aufklärung ist dringlich.

Bidens Aussenminister Antony Blinken lobte den barbarischen Terrorschlag derweil als «grosse Chance» für Europa. Millionen Deutsche dürften es anders sehen. Sie wissen nicht, wie sie durch den Winter kommen. Wirtschaftskreise sprechen bereits von «De-Industrialisierung». Sie blicken in den Abgrund eines drohenden Weltkriegs, den unsere Medien und Politiker leichtfertig in Kauf nehmen. Die Sprache ist bedenklich aufmunitioniert, die Siegesgewissheit fiebrig gross. Wer für den Frieden ist, macht sich verdächtig. Daraus kann nichts Gutes kommen.

R.K.

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