Weltwoche Kommentar 4/24

Kommentar

Die Schweiz, gerne klein

I

n dieser Ausgabe findet sich ein Interview mit Kurt Kardinal Koch. Der Schweizer Theologe im Vatikan spricht über die Glaubenskrise in Europa und die Unfähigkeit seiner Kirche im Umgang mit den Missbrauchsfällen. Der Luzerner ist ein überlegter, nachdenklicher, hochintelligenter Mann. An einer Stelle zitiert er ein Gedicht des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti: «MENSCH GERNEGROSS, gott gerneklein.»

Kochs Erinnerung an Martis geniales Kurzgedicht passt zur Gegenwart. Ich lese es als Auftrag an die Schweiz, als verbindliche Mahnung an die Gernegrossen unserer Politik, vor allem unserer Aussenpolitik, die sich auf den internationalen Bühnen und Teppichen nur allzu gerne gross machen, anstatt die Kleinheit der Schweiz als Trumpfkarte auszuspielen: «schweiz gerneklein» – so müsste es sein.

Die meisten unserer Politiker leiden am «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid), dem Schweizer Minderwertigkeitskomplex, an dem auch die meisten Journalisten und Intellektuellen kranken. Sie fühlen sich unwohl, wenn die Schweiz nicht mittanzt auf dem internationalen Parkett. Politiker, die sich dem entziehen, werden in den gernegrossen Medien als Provinzler und Hinterwäldler abgetischt.

Dabei passiert das grösste Unheil stets, wenn sich Schweizer Politiker im Ausland aufplustern, wenn sie sich nach vorne drängen, jemand sein, etwas darstellen wollen. Welch fürchterlichen Irrweg hat unser Bundesrat beschritten, als er sich in die Marschkolonnen gegen Russland einreihte, vom Selenskyj-Fieber gepackt, sich einbildend, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Peinlich berührt, stellen unsere Magistraten jetzt fest: Die siegesgewissen Rauschszenarien militärischer Erfolge und moralischer Triumphe haben sich nicht eingestellt, im Gegenteil. Die Ukraine verliert, Putin ist noch an der Macht, und so schnell werden über dem Kreml keine EU-Fahnen wehen. Die Schweizer Politik hat sich einpacken lassen, zum Schaden unseres Landes.

Neutralität ist anstrengend. Sie erfordert Mut. Anders als viele Medien berichten, ist die Neutralität keine bequeme Haltung feigen Sich-draussen-Haltens. Wer neutral ist, setzt sich zwischen alle Stühle, hält Distanz nach allen Seiten, kränkt die angeblich Guten wie die angeblich Bösen, denn alle Kriegsteilnehmer sehen sich immer im Recht und mögen es gar nicht, wenn der Neutrale neutral bleibt.

Wir dürfen uns nicht reinziehen lassen in den Wahnsinn der Gegenwart.

Neutralität heisst auch: Abstand zum Zeitgeist, zu den politischen Moden und Konjunkturen. Wer sich einhängt bei den «Angesagten », den Bejubelten und Strahlenden von heute, läuft Gefahr, auf dem Friedhof der Gestrigen zu landen. Im Fahrwasser der EU und der US-Demokraten hat die Schweiz auf den russischen Untergang gewettet. Das Risiko einer Parteinahme darf sich ein verletzlicher Kleinstaat nicht leisten.

Der politische Wind dreht, in Europa, im Westen. Besorgniserregende Krämpfe haben das orientierungslose Deutschland erfasst. Die Etablierten spüren, ihnen schwimmen die Felle davon. Verzweifelt trommeln die Regierenden zum Volksaufstand gegen die verteufelte Opposition mit Vorwürfen aus dem Giftschrank der eigenen Geschichte. DDR-Szenen obrigkeitlicher Verzweiflung glauben einige bereits zu erkennen.

Die Welt spinnt auch in den USA. Aus dem Methusalem-Duell zweier Achtzigjähriger könnte der mehrfach abgeschriebene Ex-Präsident Donald Trump als Sieger hervorgehen. Es wäre das grösste Comeback seit Muhammad Ali. Einvernehmlich malen Medien und Politik den Teufel an die Wand. Dabei ging es Europa zu Zeiten Trumps doch deutlich besser als heute – keine Kriege, billige Energie, Wohlstand.

Die Behauptung, eine Rückkehr Trumps sei Europas Untergang, ist nicht nur lächerlich. Sie ist falsch. Gefährdet wäre nicht Europa, gefährdet wäre eine bestimmte Gruppe von Politikern, die sich schon heute auf brüchigem Eis bewegen. Trump ist der Leitwolf der Unzufriedenen. Davon produzieren Europas Regierungen gerade jede Menge. Kein Wunder, kriecht ihnen mit Blick auf die US-Wahlen die nackte Angst ins Rückenmark.

Wir dürfen uns nicht reinziehen lassen in den Wahnsinn der Gegenwart. Die Schweiz ist ein Gottesgeschenk an die Eidgenossen, unverdient, aber deshalb um so wertvoller. Fragt man sich in Bundesbern, warum bei uns die Verhältnisse weniger verrückt sind als in Berlin oder Washington? Das liegt nicht an der Genialität von uns Schweizern, aber an der Genialität unserer direkten Demokratie, der Perle unter den Staatsformen.

Politikern und Journalisten, die unser Land institutionell noch immer der EU unterwerfen wollen – der Bundesrat hat entsprechende Pläne pfannenfertig in der Schublade –, ist nicht zu helfen. Ihnen sei empfohlen eine Reise ins seit Wochen brodelnde Berlin. Dort lässt sich besichtigen, was los ist, wenn die Politik fast alles und die Bürger fast nichts zu sagen haben. Wissen die Schweizer den Wert ihrer Schweiz noch zu schätzen?

K

ein Raubtier im Wappen hat die Schweiz, sondern das Kreuz, Schmerzenssymbol der Christenheit. Mit dem Kreuz trotzten die Christen der Anmassung, den Vergötterungen der Macht. Der Christengott, ein Gerneklein, verzichtete im Moment seiner Kreuzigung darauf, seine Allmacht gegen die Peiniger aufzubieten. Gerneklein statt gernegross – das Schweizerkreuz ist unser Sinn-, Leit- und Mahnbild. Wehe, wenn wir es vergessen.

R.K.

Cover: Shir Torem/POOL/EPA/Keystone

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