Weltwoche Kommentar 4/23

Kommentar

Mehr Freiheit für die Schweiz

K

laus von Dohnanyi, 94, Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie, einst Bildungsminister unter Willy Brandt, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Spross einer Familie von Widerstandskämpfern gegen Hitler und zuletzt, im biblischen Alter, hervorgetreten durch den Bestseller «Nationale Interessen», der die haargenaue Gegenthese zum kriegerischen Zeitgeist bildet, trat dieser Tage vor einer eindrücklichen Gruppe von Geschäftsfrauen auf, dem Club europäischer Unternehmerinnen. Durch den Abend führte mit eleganter Kompetenz die Präsidentin, Kristina Tröger, Betriebswirtschafterin und mehrfache Unternehmensgründerin.

In einem randvollen Speisesaal im Hamburger Hotel «Vier Jahreszeiten» hielt Dohnanyi, begleitet von seiner Ehefrau Ulla Hahn, einer preisgekrönten Schriftstellerin und bedeutenden Lyrikerin, ein mit Ironie und Charme gespicktes, vor allem aber mit Leidenschaft befeuertes Plädoyer für das Unternehmertum: «Nur die Unternehmer können und werden Deutschland aus der Krise retten.» Er forderte mehr Freiheit für die Wirtschaft, weniger Staat und Regulierung: «Je ungebundener die Unternehmer sind, desto grösser ist die Chance, dass sie die Krise überwinden.»

Dohnanyi kritisierte anhand vieler Beispiele die fortschreitende Fesselung und Selbstankettung Deutschlands, den Verlust an Handlungsfreiheit und ein Überhandnehmen einengender Vorschriften, die das einstige Wirtschaftswunderland der Pioniere und Schwerarbeiter überspitzt formuliert in ein überbremstes Freiluftlabor softsozialistischer Gesellschaftsexperimente zu verwandeln drohen. Dohnanyi drückte sich etwas gewählter aus: «Der Staat ist im Begriff, die deutsche Wirtschaft aus dem Wettbewerb herauszuregeln.»

Tatsächlich lassen sich zu Dohnanyis Befunden dramatische Belege finden. Immer mehr deutsche Industrielle warnen vor einer Verödung des Standorts, vor Deindustrialisierung, explodierenden Kosten und ideologischen Zumutungen von Klimapolitik bis Energiewende, die Deutschland, gemäss den am World Economic Forum von Kanzler Scholz formulierten Zielen, bis 2050 mit der staatlichen Brechstange zu einer Art grünen Supermacht umgestalten sollen. Was gut klingt und die Medien begeistert, löst bei vielen Betrieben Fassungslosigkeit, ja nackte Panik aus.

Auch in der Schweiz breiten sich Verpolitisierung und Moralisierung aus. Die «Woke»-Ideologie, zunächst ein Phänomen der Journalisten, der Kultur und der Universitäten, greift auf die Wirtschaft über. Jüngstes Beispiel: Der Zürcher Kantonsrat verpflichtet die Zürcher Kantonalbank auf umfassende klimapolitische Vorgaben. Eine linksgrüne Mehrheit von Abgeordneten, von denen die wenigsten in ihrem Leben schon einen Bleistift verkauft haben dürften, mischt sich tief in die Belange dieses Finanzkonzerns ein, der zu den grössten Banken der Schweiz gehört.

Doch nicht nur staatsnahen Unternehmen, sondern ganz allgemein der Schweizer Wirtschaft wird ein beklemmendes grün-ideologisches Korsett aufgezwungen. Der Staat legt den Unternehmen ökologische Ketten an, nötigt ihnen Ziele auf, die nichts mit der eigentlichen Geschäftstätigkeit zu tun haben. Das neue Aktienrecht, trotz einer faktisch bürgerlichen Mehrheit dank den Stimmen von Mitte und Teilen der FDP durchgedrückt, strotzt vor antifreiheitlichen Zutaten wie etwa Geschlechterquoten, die das Leistungsprinzip durch die Biologie aushebeln wollen.

Schon jetzt sehen sich Schweizer Unternehmen gezwungen, ihre Mitarbeiter nach allen möglichen politisch aufgepfropften Kriterien und Willkürlichkeiten auszuwählen, nur nicht nach dem einzigen Massstab, der eigentlich zu gelten hätte: dem Leistungsgedanken. Täuscht der Eindruck, oder sind wir auch in der Schweiz zusehends dabei, das Leistungsprinzip abzuschaffen? Es wäre ein gigantischer Fehler, denn das Leistungsprinzip ist nicht nur die Grundlage jeden Wohlstands, sondern auch die grösste Antriebsfeder der Freiheit und des sozialen Aufstiegs, die wir kennen.

Tragischer- und vielleicht bezeichnenderweise vermischt sich diese narkotisierende Fesselung und Freiheitsberaubung der Wirtschaft mit der fortschreitenden Neigung unserer Politik, Handlungsfreiheit und damit Eigenverantwortung preiszugeben, die Schweiz an auswärtige Institutionen anzubinden, weil man offensichtlich Angst davor hat, das Schicksal unseres Landes selber in die Hand zu nehmen. Die Neigung einer Mehrheit der Parteien im Bundeshaus, dem Druck der EU nachzugeben und Brüssel als Gesetzgeber in der Schweiz zu installieren, ist das exakte Gegenteil dessen, was Klaus von Dohnanyi in Hamburg für die Wirtschaft, aber auch für die Politik forderte: «Im Sturm muss jeder Schiffer sein Segel selber setzen können.»

Die Schweiz hat sich gefesselt. Aussenpolitisch durch zahlreiche «dynamische» Verträge mit der Europäischen Union, durch die Personenfreizügigkeit und die Asylabkommen. Wir sind heute faktisch nicht mehr in der Lage, unsere Probleme selber zu lösen, etwa die ausser Rand und Band geratene Zuwanderung zu stoppen. Die Schweiz ist nicht mehr neutral, Kriegspartei gegen Russland, eingezwungen in die Fronten, Verlust von Handlungsfreiheit auch hier. Im Innern wuchert der Staat, Regulierungen, Vorschriften und Abgaben, Bleiplatte um Bleiplatte auf die Unternehmen schichtend.

Nehmen wir Klaus von Dohnanyi beim Wort: Entfesseln, entlasten wir die Schweiz, ihre Wirtschaft und ihre Bürger. Denn was für die Betriebe gilt, stimmt für den Einzelnen erst recht: In der Krise braucht es Freiheit, Eigenverantwortung, weniger Staat. Alles auf den Staat zu schieben, nach oben, am besten gleich nach Brüssel, führt in den Abgrund. Um genau dies zu verhindern, haben unsere Verfassungsväter vor 175 Jahren den Bundesstaat gegründet, sturmfestes Bollwerk der Unabhängigkeit und Ausdruck des Willens der Schweizer, frei und selbstbestimmt zu sein.

R.K.

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