Weltwoche Kommentar 4/22

Kommentar

Putin und die Grünschnäbel

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nterschätze nie in menschlichen Dingen den Faktor Inkompetenz. Die Einsicht soll von Napoleon I. stammen, der mit seinen Truppen einst Europa überrannte. Eine seiner Strafexpeditionen führte den genialen Grössenwahnsinnigen bis nach Moskau. Der Ost-Feldzug kostete den Franzosenkaiser seine Armee, und die misshandelten Russen verloren eine halbe Million Zivilisten und Soldaten.

Knapp 130 Jahre später wollte ein anderer Machthaber aus dem sich zivilisatorisch überlegen fühlenden Westen die russische Landmasse unter seine Herrschaft zwingen. Die Armeen Hitlers fielen wie eine Kannibalenhorde über Russland her, ihr Vernichtungskrieg bleibt ein Schandfleck der Menschheit. Mindestens 24 Millionen Russen starben unter dem Wahnsinn des Diktators.

Ich bin kein Russland-Experte, aber ich könnte mir vorstellen, dass diese historischen Tatsachen und Erfahrungen nicht gänzlich unbedeutend sind für die heute lebenden Russen. Es wäre auf jeden Fall kein Wunder, wenn sie aus den Schrecken der Geschichte das Bedürfnis abgeleitet hätten, ihre offene Westflanke gegen mögliche Angriffe aus dem stets kriegerischen Westen abzusichern.

Die Weltgeschichte ist auch eine Abfolge von Missverständnissen. Schon US-Präsident Ronald Reagan erkannte in seinen Friedensgesprächen mit dem damaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, dass er sich in seinem Gegner vielleicht getäuscht hatte. Sicherheit, so realisierte der Präsident zu seiner eigenen Verblüffung, war den Russen viel wichtiger als Eroberung.

Leider gibt es heute im Westen keine Politiker vom Schlage Reagans mehr. Wir werden von Leuten regiert, die im Wohlstand aufgewachsen sind, Menschen mit sanften Gesichtszügen, Lieblinge der Medien, gepudert und verträglich zurechtgeschminkt, wendehälsige Anpassungskünstler, die bald überfordert sind, wenn sie mit der Wirklichkeit belästigt werden.

Es hilft nicht, dass das gängige Personal, das derzeit in den westlichen Regierungen das Zepter führt, nur über geringfügige historische Kenntnisse zu verfügen scheint, geschweige denn Interessen, ausgerüstet stattdessen mit dem Hochgefühl moralischer Überzeugungen, die einem die Gewissheit und Selbstsicherheit eines überlegenen Standpunkts vermitteln.

In den Augen dieser Gutmenschen und Grünschnäbel muss ein Mann wie Russlands Präsident Putin, aufgewachsen in den ärmlichen Verhältnissen einer heruntergekommenen Petersburger Mietskaserne, brutale Lebensschule des real existierenden Kommunismus, fast wie ein Ausserirdischer anmuten, ein Lebewesen aus einer fremden Sphäre, ein Monster.

Was wäre wohl in Washington los, wenn die Chinesen den Mexikanern militärische Avancen machten?

Ich sehe Putin ganz anders. Ich halte ihn für einen rational kalkulierenden Politiker, den der Zusammenbruch des sowjetischen Staates und das daraus folgende Chaos geprägt haben. Putin entwuchs den Wirren der neunziger Jahre, als sich in Russland Alkoholiker, Oligarchen und Mafiabosse am verwesenden Leichnam des einstigen Riesenreichs zu schaffen machten.

Putin ist eine Reizfigur für den Westen, weil er in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von dem verkörpert, was im Westen zum guten Ton gehört. Kürzlich hielt er einen Vortrag über die Woke- und Cancel-Culture an den amerikanischen Universitäten. Sie erinnere ihn an die ideologische Raserei der Bolschewisten vor hundert Jahren, die Russland glücklicherweise überwunden habe.

Natürlich ist Putin weder ein lupenreiner Demokrat noch ein ideales Vorbild für die Schweiz, die Staaten mit einem Raubtierwappen zu Recht misstraut. Aber in der Beurteilung vieler Russen scheint der frühere Geheimagent nach wie vor der Mann zu sein, dem sie mehrheitlich zu folgen bereit sind. Putin steht für die Sehnsucht vieler Russen nach einem starken, respektierten Vaterland.

Die Amerikaner, die Nato-Staaten und die Europäische Union, angefeuert von den Medien, müssen aufpassen, dass sie sich in ihrem Moralismus gegenüber Putin nicht verrennen. Die Westmächte liefern Waffen in die Ukraine, weil sie behaupten, den Guten helfen und einen Krieg verhindern zu wollen. Gut möglich, dass sie mit ihrer Einmischung genau das Gegenteil bewirken.

Der Westen beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Putin beruft sich, nicht minder rechtlich, auf die Istanbuler OSZECharta von 1999. Dort steht, dass alle Staaten dieser Übereinkunft die gegenseitigen Sicherheitsinteressen respektieren. Unter Absatz 8 heisst es schwarz auf weiss: Die Teilnehmerstaaten «werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen».

Man muss nicht in russischer Geschichte doktorieren, um zu begreifen, dass die Russen keine Nato-Atomraketen in der Ukraine wollen. Die Amerikaner hätten um ein Haar den dritten Weltkrieg angefangen, als die Sowjets das verbündete Kuba mit Nuklearwaffen beliefern wollten. Man stelle sich vor, was in Washington los wäre, wenn die Chinesen Mexiko militärische Avancen machten.

Ist der Westen von allen guten Geistern verlassen? Haben die Nato-Regierungen vor lauter guten Absichten ihre Urteilskraft verloren? Ein deutscher Vize-Admiral musste gehen, weil er seine ehrliche Meinung sagte: Er glaube nicht, dass Putin die Ukraine erobern wolle («Nonsens »). Hingegen solle man dem Kremlchef den Respekt entgegenbringen, den er «wahrscheinlich auch verdient».

Die neutrale Schweiz könnte als Therapiezentrum der besseren Verständigung wirken, aber auch bei uns haben die Anti-Realisten Oberwasser. Sie drängen unser Land ins Minenfeld der Geopolitik. Die Schweiz soll Platz nehmen im Uno-Sicherheitsrat. Dort entscheiden die Grossmächte über Frieden und Krieg, zum Beispiel gegen Russland. Wir sind noch verrückter als die Nato.

Kehren wir dank Putin zur Vernunft zurück? Der eisige Stratege aus dem Osten ist womöglich die Schocktherapie, die der Westen dringend braucht, um sich von seinen gefährlichen Illusionen zu befreien. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Russen ihre westlichen Rivalen vor sich selber retten. Putins Russland ist ein Partner, kein Feind. Wann merken es die Politiker?

R.K.

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