Cassis gegen China
echerchen der NZZ fördern Bedenkliches zutage: Offenbar ist die chinesische Regierung erbost über die Schweiz. Die neue aggressive China-Strategie des Aussendepartements unter Bundesrat Ignazio Cassis kommt in Peking gar nicht gut an. Die Grossmacht hat nun die Verhandlungen über eine Erweiterung des Freihandelsabkommens zwischen den beiden Ländern auf Eis gelegt. Die Schweiz möge sich mit Belehrungen und Forderungen im Zusammenhang mit Menschenrechten mässigen. Milliarden von Exportfranken stehen auf dem Spiel.
Der eisige Ton aus dem Osten ist die Quittung für eine zusehends übermütige und wirklichkeitsvergessene Aussenpolitik der Schweiz. Die Risiken sind erheblich. China ist ein gigantischer Absatzmarkt für unser Land. 2020 exportierte die Schweiz Güter und Dienstleistungen im Wert von 14,7 Milliarden Franken, während umgekehrt die Importe aus China auf die Rekordmarke von 16,1 Milliarden Franken kletterten. Die Schweiz war einer der ersten, wenn nicht der erste westliche Staat, der die Volksrepublik vor rund siebzig Jahren diplomatisch anerkannte.
Grundlage der bisher hervorragenden Beziehungen war aus Schweizer Sicht die Pflege einer strikt neutralen Position. Diese anspruchsvolle Haltung freundlicher Distanznahme und Zurückhaltung ist allerdings unter dem Einfluss von linken Kreisen, Medien und Universitäten zusehends unter Druck geraten. In unserer moralintrunkenen Zeit wird auch von einer Schweizer Regierung verlangt, zu allem und zu jedem eine Meinung zu haben, Stellung zu beziehen, sich einzumischen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Bundesrat Cassis gab dieser Tendenz allzu willig nach.
Die Schweiz droht zu vergessen, warum es ihr so gut geht. Im Parlament gewinnen Aussenpolitiker an Gewicht, die sich in den ihnen geneigten Medien als globale Wohltäter inszenieren können, als Gefühlsexperten, die ihre subjektiven Empfindungen oder ihre ideologischen Obsessionen zur Richtschnur der Aussenbeziehungen unseres Landes erklären. Allein das Wort Neutralität ist in diesem Milieu ein Synonym für moralische Feigheit, der die Linken dadurch zu entgehen glauben, dass sie der Schweiz die heldenhafte Rolle einer Schul- und Zuchtmeisterin der Welt aufdrängen.
Was Bundesrat Cassis geritten hat, als er sich auf den verhängnisvollen Plan einliess, die Welt mit einer Schweizer «China-Strategie» zu beglücken, müssen dereinst Politologen klären. Unromantisch veranlagte Beobachter wittern beim Tessiner handfeste bis verzweifelte Machtinteressen. Die Theorie geht so: Cassis habe nach seinem beherzten Abschuss des institutionellen EU-Rahmenabkommens akute Angst vor einer Nichtmehrwiederwahl bekommen. Ergo versuche er, mit einer aktivistischen Menschenrechtspolitik gegen China die Herzen der Linken zurückzuerobern.
Es wäre ein Teufelspakt zu Lasten unseres Landes, denn China eignet sich nun wirklich nicht als Kampfzone schweizerischer Innenpolitik. Cassis aber stellte sich taub gegen Mahnungen und Szenarien von bürgerlicher Seite, vor allem der SVP. Die Volkspartei war von Beginn weg gegen den moralischen Interventionismus der Linken, Linksgrünen, Mitte-Linken und Linksfreisinnigen, den im Bundeshaus immer salonfähiger werdenden Moralkolonialismus saturierter Berufspolitiker, die ihren Lohn auf sicher haben, auch wenn die Schweiz in China keine Schraube mehr verkauft.
Eine trübe Rolle spielen die Medien. Sie scheinen geradezu gepackt vom Rausch ihrer Hochmoral, eine Art Weltbelehrungsvirus scheint sich in manchen Journalistenhirnen festzusetzen. Als ob es sich bei der Schweiz um eine Supermacht mit Pazifikflotte handeln würde, fordern diese Strategen der Einbildung ein «entschlossenes Durchgreifen» gegen die angeblich immer aggressiver auftretenden Chinesen, die der Schweiz allerdings noch nie ein Haar gekrümmt haben. Allen voran die NZZ bläst wie eine enthemmte Pentagon-Filiale zum Kalten Krieg im Südchinesischen Meer. Ob Viola Amherd die Schlauchboote unserer Bodensee- Marine schon flottgemacht hat?
Dem Schweizer Sanktions- und Wirtschaftskriegsgegurgel gegen das Riesenreich mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern wäre eigentlich nur mit der Satire beizukommen, doch die Sache ist leider ernst. Der Bundesrat braucht dringend Neutralitätsnachhilfe und allenfalls ein neues, belastbareres Rückgrat. Ignazio Cassis hat im Ringen mit der EU bewiesen, dass er es kann. Der charmante, manchmal etwas biegsam- geschmeidige Tessiner wäre von seinem Naturell her der natürliche Versöhner. Mit seiner konfrontativen China-Strategie geht er auf Kollisionskurs zu sich selber.
Zum Schluss die gute Nachricht: Das Erfreuliche an der Politik besteht darin, dass man schnell vergisst. Rasant verblasst der Unsinn von gestern. Cassis sollte, wenn er nicht zurücktreten oder das Departement wechseln will, seine China-Strategie dem Schredder anvertrauen. Wenn es am Höhepunkt des Kalten Kriegs dem amerikanischen Kommunistenfresser Richard Nixon gelang, mit Chinas rotem Kaiser Mao in herzlichste Verbindungen zu treten, gibt es vielleicht auch für die Schweiz noch eine Chance.
Dazu aber sollte sich der Aussenminister von den Wirrköpfen der Linken und dem Lichterketten-Flügel seines Freisinns befreien. Die Schweiz braucht keine «China-Strategie», sie braucht eine Rückbesinnung darauf, was es bedeutet, als Kleinstaat ohne Kolonien und Bodenschätze in einer von Raubtieren und Grosskatzen bevölkerten Wildnis zu überleben.
Unsere Vorfahren haben dazu das Instrument der bewaffneten Neutralität erfunden, verfeinert und in der Wirklichkeit erprobt. Das mag nicht perfekt sein, aber es ist besser als all der hochfliegende, nebulöse Unsinn, den sie in Bern an dessen Stelle setzen wollen.
R.K.