Weltwoche Kommentar 38/20

Kommentar

Boris Johnsons Lehren für die Schweiz

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ie meisten Journalisten und Politiker können dem britischen Premier Boris Johnson gar nichts abgewinnen. Sie halten ihn für einen «Clown», für einen «Populisten», für einen gefährlichen «Egomanen», dessen Handeln die NZZ dieser Tage mit Adjektiven wie «unverschämt», «zynisch» und «irreführend» beschreibt.

Johnsons Urverbrechen besteht darin, dass er sich zum Sprachrohr der Brexit-Befürworter machte. Das haben sie ihm nie verziehen. Schlimmer war dann nur noch sein Versprechen, den vom Volk beschlossenen EU-Ausstieg zügig umzusetzen. Mit dieser Ansage erzielte er in den Wahlen einen Erdrutschsieg.

Die geballte Häme, die dem früheren Starjournalisten seit Jahren entgegenschlägt, ist masslos übertrieben. Sie wird weder der Person noch der Politik gerecht. Sie spiegelt dafür anschaulich die professionelle Nichtdistanz zwischen den meisten Journalisten und der Europäischen Union.

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nteressanterweise ist Johnson für viele Schweizer Medien ein besonders rotes Tuch. Die Kritik ist auch deshalb heftig, giftig, weil der britische Premier gegenüber der EU viel kaltschnäuziger auftritt als der Bundesrat. Er ist das Gegenteil unserer EU-hörigen Regierung. Darum hassen ihn die Journalisten so. Möge ja niemand in Bern auf die Idee kommen, es dem verrückten Briten gleichzutun.

Dabei sollte man sich an ihm ein Vorbild nehmen. Nicht nur zauberte er entgegen allen Abgesängen, es sei unmöglich in so kurzer Zeit, soeben ein Freihandelsabkommen mit Japan aus dem Hut. Im Umgang mit der EU liefert Johnson ein Musterbeispiel an Verhandlungstaktik. Sein Ziel ist es, die EU schachmatt zu setzen und die eigenen Interessen durchzubringen. Natürlich hat Brüssel genau das gleiche Ziel.

Boris Johnsons Vorgängerin Theresa May versagte, weil sie gegenüber der EU exakt so auftrat wie die Schweiz. Ihre Kompromissbereitschaft hatte etwas Masochistisches. Das Resultat waren schlechte Deals, die vom Parlament allesamt versenkt wurden. May ertrug die Niederlagen eisern, stoisch, bewundernswert.

Johnson stieg ganz anders ein. Er setzte die EU unter Druck. Auf keinen Fall werde Grossbritannien einen schlechten Vertrag akzeptieren. Schalte Brüssel auf stur, werde man die EU ohne Deal verlassen. Damit traf er den Schwachpunkt. Die EU braucht einen Vertrag. Nicht zuletzt deshalb, weil sie verhindern will, dass die Briten bei einem vertragslosen Zustand Tausende von EU-Bürgern rauswerfen.

Die Schweiz ist keine Insel im Meer. Sie ist eine Oase in den Alpen. Und sie hat massive Trümpfe.

Johnsons Power-Bluff war erfolgreich. Er holte sich ein Abkommen. Dieses hatte zwar gewichtige Nachteile – Grenze zu Nordirland –, aber es war ein Anfang. Letzte Woche folgte sein zweiter Hammerschlag. Frech überrumpelte er alle mit einem wohl vertragswidrigen Austrittsgesetz, das die Nordirland-Frage ganz im Sinne Grossbritanniens klärt. Brüssel empfindet es als Kriegserklärung.

Die Medien toben. Die Linke schäumt. Selbst in den konservativen Reihen jaulen sie auf, doch Johnson, dieser geniale Poker-Schauspieler, betoniert nur eiskalt seine Stellung. Es stimmt. Es ist höchstwahrscheinlich ein Vertragsbruch, aber die EU hat sich selber schon so oft über ihre eigenen Verträge hinweggesetzt, dass die Moralpredigten aus Brüssel nicht so recht verfangen wollen.

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ohnson testet die Widerstandskräfte seiner Gegner aus. Seine Kalkulation ist: Brüssel will unbedingt einen Vertrag. Wegen Nordirland wird man keinen Bruch riskieren. Ob das so sein wird, wissen wir nicht. Aber Johnson treibt die anderen in die Enge. Seine Stärke ist enorm, weil er bereit ist, auch ohne Abkommen aus den Verhandlungen auszusteigen.

Natürlich blufft die EU mit aller Kraft dagegen. Sie weissagt den Briten den Untergang, namenlose Armut, sollten sie sich Brüssel widersetzen. Kommt uns das bekannt vor? Einschüchterungen, Drohungen, brutale Schachzüge sind in Verhandlungen Alltag. Gute Regierungen halten es aus, ohne einzuknicken.

Die Schweiz sollte schleunigst von ihrem Theresa-May-Trip runterkommen und Mass nehmen am vermaledeiten Boris Johnson. Der Bundesrat schiesst sich selber ins Bein, wenn er laufend beteuert, wie aufgeschmissen die Schweiz angeblich ist ohne «bilaterale Verträge » oder ein «institutionelles Rahmenabkommen ». Mit dieser Selbstverkleinerungsrhetorik gewinnt man keinen Blumenkranz.

Die Schweiz ist keine Insel im Meer. Sie ist eine Oase in den Alpen – mit massiven Trümpfen. Ihr Multimilliardenmarkt ist hoch begehrt. Durch den Gotthard läuft eine der Hauptverkehrsschlagadern der EU. Fast 1,5 Millionen Europäer leben hier. Der Bundesrat muss aufhören, sich von Brüssel die Bedingungen diktieren zu lassen. Er sollte, endlich, mit richtigen Verhandlungen beginnen.

R.K.

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