Weltwoche Kommentar 37/23

Kommentar

Würde und Ehre der Schweiz

«Die unabhängige Schweiz wird sich
weiterhin selber regieren!»
Bundesrat Jonas Furrer, erster Präsident
im modernen Bundesstaat von 1848
A

Am 12. September 1848, vor 175 Jahren, trat die neue Bundesverfassung in Kraft. Sie werden vieles hören von der Classe politique aus dem Bundeshaus, zum Beispiel:

«Es ist Zeit, die Schweiz neu zu denken.»

«Die Schweiz muss in Europa ankommen.»

«Damals hatten die Gründerväter noch Mut.»

«So, wie man damals einen Schweizer Binnenmarkt gründete, sollten wir heute Mitglied des europäischen Binnenmarktes werden.»

«1848 war eine Grosstat der FDP.»

Und so weiter. Und so weiter.

Alles falsch. Aber schön der Reihe nach.

War 1848 eine Grosstat der FDP, der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz? Nein. 1848 war die Grosstat, der epochale Wurf der liberal-radikalen Grossfamilie, zu der auch die später, im Kampf gegen den roten und braunen Totalitarismus abgespaltene SVP und die Demokraten gehörten. Letzteren gebührt das Verdienst, gegen freisinnige Barone wie Alfred Escher und andere die direkte Demokratie erkämpft, durchgesetzt zu haben.

Kann man die Bundesverfassung von 1848, wie es der Historiker André Holenstein gerade wieder einmal in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) versucht, als «Geschenk des Auslands» bezeichnen und somit als eine Art Urvertrag des Europäismus, die Schweiz nicht als eine Freiheits- und Willensleistung ihrer Bürger und Politiker, sondern als die Gnadengabe der damaligen europäischen Grossmächte? Dieses Argument zielt darauf ab, den Widerstand der SVP und einer Mehrheit der Schweizer gegen einen EU-Beitritt als Ausfluss historischer Missverständnisse zu entlarven.

Daran ist immerhin so viel wahr, dass der 1848 gegründete Bundesstaat gewiss auch das indirekte Resultat schmerzlicher Niederlagen der alten Eidgenossenschaft war, eines baufälligen Konstrukts aus dem Spätmittelalter, das dem Ansturm der Moderne in Gestalt des reitenden «Weltgeists» Napoleon, wie ihn seine Bewunderer sahen, nicht gewachsen war. Die korsische Eroberungsfurie hatte auch die Schweiz umgepflügt, und so konnten Einflüsse der Französischen Revolution, wenn auch schweizerisch abgemildert, hier offensichtlich Fuss fassen und fruchtbare Blüten treiben.

Dieses sehr stark von Euroturbo-Historikern forcierte Argument allerdings verkennt das Wesentliche. Die Verfassungsväter, allen voran Ulrich Ochsenbein, der Bismarck, der Cavour der Schweiz, wollten die wurmstichigen Institutionen, den lockeren Staatenbund in einen effizienteren, gegen aussen wirkungsvolleren Bundesstaat unter Achtung der Rechte der Kantone durch ein gleichberechtigtes Zweikammersystem umbauen. Ochsenbein und seine Mitstreiter wollten Souveränität und Selbstbestimmung statt ständiger Einmischungen von aussen.

Der Hauptgestalter der modernen Bundesverfassung, der Berner Ochsenbein, trachtete «Ehre, Würde und Unabhängigkeit» der Schweiz zu sichern. Seine Verfassung war eine
wehrhafte Festung des Rechts, eine Burg aus Paragrafen, die den Urgehalt des Rütlischwurs von 1291 unter den Bedingungen der liberalen, nationalstaatlich inspirierten Moderne in einem Vielfaltsgebilde wie der Schweiz verwirklichen und sturmfest machen sollte. Es ist auf beeindruckende Weise gelungen. 175 Jahre lang, von wenigen Revisionen abgesehen, hält diese Verfassung, während um die Schweiz herum alles zusammenkrachte. Unsere Bundesräte sind, nach einer schönen Formulierung von alt Bundesrat Ueli Maurer, lediglich die «Fussnoten» einer durch Stabilität und Erfolg gekennzeichneten Geschichte.

Ochsenbein war kein früher EU-Enthusiast. Im Gegenteil. Das monarchische Ausland, mit Ausnahme der Briten, die in Kontinentaleuropa Zwietracht säten, war gegen die Schweiz und ihre Volkssouveränität. Doch Ochsenbein, tragischer Gigant, trotzte den Purpurträgern und Goldbetressten an Europas Fürstenhöfen, zog sogar die Mobilisierung von Truppen an der Grenze in Betracht und drohte den Diplomaten, ihre eigenen Völker würden die Monarchen von den Thronen fegen, sollten sie sich gegen die Schweiz und ihre Freiheit stellen.

Man bezog sich auf die Schlachten und Taten der alten Eidgenossen, es gehe darum, in den sturmbewegten Wellen wieder eine Gesamteidgenossenschaft herzustellen. Gegenüber zudringlichen Auslandmächten hielt der Zürcher Vertreter im Verfassungsrat, der spätere erste Bundespräsident, Jonas Furrer, ein für alle Mal fest: «Die unabhängige Schweiz wird sich weiterhin selber regieren!»

Eine erstaunlich direkte Linie zieht sich von 1291 bis 1848, vom Rütli bis nach Bern und zur Gründung des modernen Bundesstaats. Anders, als Ihnen jetzt landauf, landab gepredigt wird, sind 1291 und 1848 keine Gegensätze. Beide Daten gehören zusammen, bilden einen Sinnzusammenhang, die Bekräftigung des schweizerischen Unabhängigkeitswillens in jeweils «arglistiger Zeit».

Eine erstaunlich direkte Linie zieht sich von 1291 bis 1848, vom Rütli zur Gründung des Bundesstaats.

Auch unsere Gegenwart hat ihren Heldentag. Es ist der 26. Mai 2021. Damals beerdigte der Bundesrat aus eigener Kraft den geplanten institutionellen Unterwerfungsvertrag mit der EU. Aus einem gleichberechtigten Partner wäre die Schweiz zu einem Untertanengebiet der Europäischen Union geworden – unvereinbar mit Ochsenbeins «Ehre, Würde und Unabhängigkeit» der Schweiz.

Feiern wir also 1291, 1848 und 2021 im gleichen Atemzug. Auf Jahrhunderte wundersamer Kontinuitäten blicken wir Schweizer, fast etwas schwindlig, inzwischen zurück, von den Kämpfen und Opfern unserer Ahnen unschätzbar profitierend und sie für selbstverständlich nehmend. Nein, wir müssen die Schweiz nicht «neu denken» oder an die Europäische Union anschrauben. Wir sollten sie, schön bescheiden, demütig und dankbar, hegen, pflegen und erhalten, frei, selbstbestimmt und unabhängig als weltoffenstes Land der Welt. Denken Sie bitte daran, wenn Sie in diesen Tagen allerhand Abstruses über 1848 hören.

R.K.

Cover Illustration: Morten Morland

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