Weltwoche Kommentar 36/22

Kommentar

Mehr Churchill für die Schweiz?

Der Parteinahme winkt unmässiger Lohn,
der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen.
Carl Spitteler, «Unser Schweizer Standpunkt»

C

hurchill ist einer der meistmissbrauchten Namen in der Politik. Immer dann, wenn Politiker, vor allem die, die noch nie einen Krieg aus der Nähe gesehen haben, sich den Anschein unerschütterlicher, kampfbereiter Prinzipientreue im Angesicht des Bösen geben wollen, nehmen sie den berühmten Britenpremier in Anspruch. So auch FDP-Präsident Thierry Burkart.

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine forderte der Chef-Freisinnige in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) kürzlich mehr Churchill in der Schweizer Politik. Ins Visier nahm der Aargauer dabei vor allem die bürgerliche Konkurrenz der SVP, die in seinen Augen angekränkelt ist vom Gift des «Appeasement» – im Umgang mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Unter dem Begriff «Appeasement» sind in unrühmlicher Erinnerung geblieben die rückblickend naiv anmutenden Friedens- und Vermittlungsbemühungen des Churchill- Vorgängers Neville Chamberlain gegenüber dem deutschen Diktator Hitler. Chamberlain hatte gehofft, den Nazi-Herrscher «beschwichtigen » zu können, während Winston Churchill warnte und für harte Konfrontation eintrat.

Ich bin auch für Churchill und teile die Auffassung, dass Chamberlain die Bedrohung damals falsch einschätzte. Allerdings würde ich ihm – Chamberlain-Versteher, der ich bin – zugutehalten, dass er in besten Absichten handelte, um einen bewaffneten Konflikt zu verhindern; verständlich vor dem Hintergrund des für die Briten besonders blutigen Völkergemetzels von 1914 bis 1918.

Churchill wiederum, mit ramponiertem Ruf aus dem Ersten Weltkrieg, predigte den gnadenlosen Widerstand. Nach einer wechselhaften politischen Laufbahn war er in den dreissiger Jahren ein Mahner der Aufrüstung. Als Hitler mit seinen Truppen 1940 Europa kontrollierte und Chamberlains Traum in Trümmern lag, stieg Churchill, Premierminister der Stunde, zum Freiheitshelden auf.

Churchill verordnete seinen Landsleuten «Blut, Schweiss und Tränen». Er schwor sie ein auf den Krieg gegen die braune Pest: «Wir werden bis zum Ende gehen. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und den Ozeanen kämpfen (. . .). Wir werden an den Stränden kämpfen (. . .). Wir werden auf den Feldern und den Strassen kämpfen. (. . .) Wir werden niemals aufgeben.»

Churchill heisst: Blut, Schweiss und Tränen, Mobilmachung, Kampf, Krieg, Tote, Sieg oder Untergang.

Als Churchill am 4. Juni 1940 vor dem britischen Unterhaus diese Sätze sprach, war die Schweiz ein strikt neutraler Staat. Führende Politiker der FDP, etwa Bundesrat Walther Stampfli oder Nationalrat und NZZ-Chef Willy Bretscher, forderten «absolute Neutralität» von der Schweiz, die «bedingungslose Gleichbehandlung aller Kriegsparteien». Unparteilichkeit. Eben hatte Hitler Polen überfallen.

Die Churchills der Schweiz setzten nicht auf Krieg, sondern auf die immerwährende, bewaffnete und umfassende Neutralität. Die Hungerwaffe der Sanktionen lehnten sie ab. Die Devise lautete: «Mischt euch nicht in fremde Händel ein.» Kritikern gab Stampfli zurück, er pfeife darauf, was kommende Generationen sagen. Hauptsache, die Schweizer hätten genügend Essen auf dem Teller.

Beim Lesen seines Interviews habe ich mich gefragt, ob Thierry Burkart wirklich bewusst ist, was seine Forderung nach «mehr Churchill» in der Schweiz bedeutet. Churchill heisst: Blut, Schweiss und Tränen, Mobilmachung, Kampf, Krieg, Tote, Ende jeglicher Neutralität, Sieg oder Untergang. Churchill schätzte die Schweiz, aber aussenpolitisch verkörperte er das Gegenteil.

Burkart begründet seine Beschwörung Churchills damit, dass in der Ukraine «unsere Werte» und «unsere Freiheit» verteidigt werden. Deshalb sind für den FDP-Chef alle Schweizer Neutralitätsverfechter und alle Kritiker der EUSanktionen gegen Russland, die der Bundesrat übernommen hat, kleine Chamberlains, nützliche Idioten und Stiefelknechte einer Diktatur.

Ich sehe es anders. Das ist kein Churchill- Moment für die Schweiz. Wäre es das, müsste Burkart, Justiz-Hauptmann unserer Armee, im Schlachtgetümmel selber zu den Waffen greifen, um die Schweizer Freiheit zu verteidigen. Churchill liess nicht Ukrainer für seine Werte sterben. Waffenlieferungen und Sanktionen genügten ihm nicht. Er verlangte von seinem Land den Krieg. Mit allem, was dazugehört.

«Um sich einer Sache absolut sicher zu sein, muss man entweder alles darüber wissen oder nichts.» Das Bonmot von Henry Kissinger erinnert uns daran, dass historische Vorbilder und Vergleiche ihre Tücken haben. In Mythen kann man sich auch verhaspeln. Es wimmelt gerade wieder, nicht nur in der Schweiz, von eingebildeten Churchills, die ihren Mut in der gesicherten Deckung zelebrieren.

Wer mehr Churchill für die Schweiz einfordert, wer sich allenfalls selber für einen Schweizer Churchill hält, zieht die Schweiz in den Krieg, holt den Krieg in die Schweiz. Das ist der falsche Weg. Es war übrigens Churchill, der die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg dafür lobte, dass sie ihre Demokratie verteidigte – nicht durch Kriegsteilnahme, sondern dank ihrer wehrhaften Neutralität, einer anspruchsvollen Überlebenskunst des Draussenbleibens.

R.K.

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