Weltwoche Kommentar 33/22

Kommentar

Mehr Schweiz wagen

Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.
Faust zu Mephisto

I

rren ist menschlich. Man weiss nie, ob man mit seiner Meinung richtigliegt. Deshalb braucht es Meinungsvielfalt. Und Diskussion. Lärm ist das Betriebsgeräusch der Demokratie. Nur auf Friedhöfen und in Diktaturen ist es still. Gute Demokratien sind laut, es kracht gelegentlich, Polarisierung kommt vor, hoffentlich. Weil wir nie sicher sein können, ob wir richtigliegen, braucht es lebhafte Diskussionen, bevor Entscheide fallen. Je heftiger die Auseinandersetzung, desto weniger schlecht sind die Entscheidungen. Ohne Meinungsvielfalt gibt es keine Demokratie.

Die Schweiz ist das demokratischste Land der Welt. Das ist eine Feststellung, kein Eigenlob. Wir haben eine vielfältige Parteienlandschaft, auch in der Medienbranche herrscht noch einigermassen Meinungswettbewerb. Mit ihrer direkten Demokratie ist die Schweiz die intellektuelle Avantgarde Europas, vielleicht der Welt. Alle wichtigen Debatten – Zuwanderung, Asyl, Landesverteidigung, Energie – sind bei uns früher geführt worden als im Ausland. Nicht weil die Politiker schlauer sind. Nein, sondern weil die Bevölkerung das so wollte. Agenda-Setting von unten ist besser.

Deutschland, Europa, ja die Welt sollte verschweizern. Der legendäre deutsche Kanzler Willy Brandt prägte den Satz: «Mehr Demokratie wagen!» Stimmt. Die Deutschen sollten Brandt endlich beim Wort nehmen: «Mehr Demokratie wagen!» Natürlich sind die meisten Politiker dagegen. Sie hassen die direkte Demokratie, weil direkte Demokratie mehr Macht fürs Volk und weniger Macht für die Politik bedeutet. Auch in der Schweiz war die direkte Demokratie kein Geschenk von oben. Sie musste von unten erkämpft werden – gegen den erbitterten Widerstand der Politik.

Mehr direkte Demokratie, mehr Schweiz wagen: Das ist das Gebot der Stunde. Wären alle Länder wie die Schweiz, gäbe es keine Kriege und keine Armut mehr. Die Schweiz ist nicht nur demokratisch. Sie ist auch neutral, wenigstens theoretisch, jedenfalls war sie es während Jahrhunderten. Neutrale Staaten fangen keine Kriege an. Neutrale Staaten sind für niemanden eine Bedrohung. Was wäre der Welt an Unheil erspart geblieben, hätten sich die ukrainischen Regierungen nicht vom Westen gegen Russland aufstacheln lassen, sondern als neutraler Puffer zwischen Ost und West auch mit Moskau den Kompromiss gesucht.

Solche Gedanken sind in unseren moralindurchtränkten Zeiten nicht mehr so erwünscht. Man will uns einreden, der Krieg in der Ukraine sei das ausschliessliche Resultat des bösartigen, ja regelrecht teuflischen Wirkens eines Mannes, Wladimir Putins. Jeder Zweifel an dieser Theorie, allein schon der Versuch, sie zu hinterfragen, ist Landesverrat, Liebedienerei beim Feind, Verstoss gegen das Dogma, in das sich die westlichen Regierungen und ihre Medien verbissen haben. Diese Kreise sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie jede Diskussion darüber für überflüssig halten, für moralisch verwerflich.

Wo ist eigentlich die gute alte Tugend der Skepsis geblieben? Wo sind die fruchtbaren Selbstzweifel, die unsere westliche Kultur, die wir angeblich gegen Russland verteidigen sollen, seit Jahrhunderten auszeichnen? Der vor ein paar Jahren verstorbene deutsche Kinderbuchautor Otfried Preussler («Räuber Hotzenplotz », «Die kleine Hexe», «Krabat») hat dazu Bemerkenswertes geschrieben:

«Zu meinen Devisen gehört eine ganz einfache: Mit Anstand über die Runden! Ich weiss, dass es schwierig ist, moralische Urteile abzugeben oder gar zu fällen. Man muss, wenn man moralisch urteilen oder gar verurteilen will, das Ganze einer Situation kennen. Anderen gegenüber habe ich so viel Verständnis wie nur irgend möglich, und im Zweifelsfall lasse ich immer mildernde Umstände gelten. Der Mensch ist ein angefochtenes und anfechtbares Wesen, und er wäre kein Mensch, wenn er sein ganzes Leben ohne den Schatten irgendeiner Fehlleistung hinter sich bringen könnte.»

Hütet euch vor den Moralisten! Hütet euch vor den Rechthabern, vor den Tyrannen des angeblich Guten! Menschen irren, und sie irren dann am gefährlichsten, wenn sie sich ihrer Sache am sichersten sind, wenn sie die andere Meinung nicht mehr hören wollen, wenn sie die andere Meinung zum Verbrechen, zur Untat, zur moralischen Fehlleistung stempeln.

Auch deshalb sollte die Welt verschweizern. Die direkte Demokratie ist die Staatsform des gesunden Misstrauens, der Skepsis, der Meinungsvielfalt. Eng damit verbunden ist die Neutralität, aussenpolitische Zurückhaltung, Verzicht auf Kriegseinmischung, militärisch wie wirtschaftlich. Neutralität und direkte Demokratie sind die wirksamsten bekannten Fesseln, die der Bürger dem Staat und den Politikern anlegen kann, um kriegerische Abenteuer zu vermeiden.

Mehr Schweiz wagen! Die historische Mission Deutschlands, die zwingende Folgerung aus einem Jahrhundert militärischer Niederlagen und gescheiterter Grossmachtansprüche auf der Grundlage zuletzt einer verbrecherischen rassistischen «Hypermoral», könnte die Verschweizerung sein. Stellen wir uns eine direktdemokratische Bundesrepublik vor. Warum soll es nicht gelingen? Hütet euch vor Politikern, die den Bürgern die Demokratie nicht zutrauen!

Ein direktdemokratisches, neutrales Deutschland wäre der Anfang einer neutralen EU, die als Pufferzone zwischen Ost und West auch eine neutrale Ukraine integrieren könnte, natürlich bewaffnet und zur eigenständigen Selbstverteidigung bereit, keine Filiale der amerikanischen Aussenpolitik. Mit so einem Europa, mit so einer Ukraine könnten auch die Russen leben. Eine Utopie? Nein. Eine realistische Perspektive.

Mehr Demokratie, mehr Neutralität, mehr Schweiz wagen!

R.K.

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