Joe Bidens Saigon
och am 2. Juni 2021 meldete die amerikanische Botschaft in Kabul begeistert, der Monat Juni stehe im Zeichen der LGBTQ-Gemeinschaft. Die Vereinigten Staaten, hiess es, respektierten «Würde und Gleichheit» aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen in Afghanistan. Die örtliche Universität hatte bereits ein Masterprogramm für «Gender- Studien» eingeführt. Das wilde Land am Hindukusch, so lautete hier die Botschaft, sei auf allerbestem Weg, nach den Werten und Vorstellungen seiner westlichen Besatzer in die Zukunft abzuheben.
Illusionen verbreitete an einer Medienkonferenz am 8. Juli dieses Jahres auch US-Präsident Joe Biden. Auf die Frage, ob die weitverbreitete Korruption der Grund für das Scheitern des amerikanischen Engagements in Afghanistan sei, gab der Chef im Weissen Haus trotzig zurück: Das Engagement sei keineswegs gescheitert. Und die Möglichkeit, dass die Taliban das Land «überrennen und übernehmen », sei «hochgradig unwahrscheinlich». Auf keinen Fall werde es Szenen wie 1975 in Vietnam geben, als die US-Botschaft in Saigon mit Helikoptern evakuiert werden musste.
Nun ist Joe Biden gewiss nicht der erste und einzige amerikanische Präsident, der mit seinen aussenpolitischen Diagnosen kolossal danebenlag. Die Amerikaner haben ein bewundernswertes Talent dafür, sich von ihrem Idealismus anfeuern, zu Höchstleistungen anspornen zu lassen. Das ist grossartig, inspirierend und eine Grundlage für ihren beeindruckenden Erfolg. Auf der anderen Seite haben sie die weniger erbauliche Neigung, sich von ihren Idealen, von ihrem Optimismus regelmässig blenden, berauschen zu lassen. Das kann dann fürchterlich schiefgehen.
Natürlich ist das, was jetzt in Afghanistan abläuft, für die Amerikaner und ihren Präsidenten ein unfassbares Debakel. Weniger die Tatsache, dass man sich nach einem zwanzigjährigen militärisch- diplomatischen Einsatz aus einem uneinnehmbaren Gebirgsstaat zurückzieht, ist das Problem. Erschütternd ist die Inkompetenz, mit der die Operation durchgeführt wurde. Hals über Kopf haben die US-Truppen die Flucht ergriffen, ihre Verbündeten im Stich gelassen und modernstes Armeematerial zurückgelassen. Und, ja, auch über der US-Botschaft in Kabul kreisten schliesslich die Hubschrauber.
Präsident Biden hatte den Abzug aus Afghanistan als symbolpolitischen Festakt pünktlich zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum der Terroranschläge vom 9. September 2001 geplant, als die Amerikaner ihre Mission gestartet hatten. Es kam ganz anders. Schreckliche Parallelen fallen auf: Wie damals in New York, als nach dem Flugzeugeinschlag in die Twin Towers Menschen vom Himmel fielen, stürzten auch diesmal Menschen vom Himmel in den Tod. Sie hatten sich in ihrer Verzweiflung auf dem Rollfeld des Flughafens Kabul an eine startende US-Rettungsmaschine geklammert.
In einer ersten, späten Ansprache verteidigte Biden seinen Rückzug, ohne allerdings die Verantwortung dafür zu übernehmen. Er identifizierte die Schuld bei seinen Vorgängern von Bush, Obama bis Trump. Schwere Vorwürfe machte er den afghanischen Streitkräften und den Politikern, die sich wie Feiglinge aus dem Staub gemacht hätten. Kein Wort der Kritik fiel gegen die Taliban. Die Gotteskrieger, bärtige Urmenschen aus den Bergen, geben sich nach ihrem Handstreich erstaunlich gemässigt. Tausende von Afghanen fliehen trotzdem, weil sie einen Rückfall ins Mittelalter befürchten.
Biden, Ritter der traurigen Gestalt, verkauft seine Kapitulation als Erfolg und das Flucht- Fiasko als Ausfluss staatspolitischer Weisheit. Ob sich diese mutige Deutung durchsetzen wird? Für die Amerikaner bedeutet der Abzug den Verlust wichtiger Truppen- und Operationsbasen. Afghanistan könnte unter den Taliban wieder zu einem Nistplatz für Terroristen werden. Die Russen und die Chinesen strecken ihre Greifarme aus, um das machtpolitische Vakuum zu füllen. Europa darf die Flüchtlingsströme bewältigen, die das amerikanische Scheitern vielleicht auslöst.
Und die Schweiz? Sie scheint schon mit der Rückführung ihrer Entwicklungshelfer überfordert. Bundesrat Cassis sprach vor den Medien leichenbleich von «Krisenmodus». Auch das Schweizer Aussendepartement setzte Millionen in den Sand, um in Afghanistan mit heroischer Vergeblichkeit «eine friedliche Gesellschaft mit rechtsstaatlichen und bürgernahen Institutionen» aufzubauen. Nicht einmal die Amerikaner waren so naiv, die streng islamgläubigen Stämme in ihren unbezähmbaren Berglandschaften mit «nation building» zu beglücken.
Inzwischen verlangen linke Politiker vom Bund die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen. Ein neuerliches Asylchaos mit Schwerintegrierbaren bahnt sich an. Warum lässt man nicht zuerst die Nato-Staaten die Konsequenzen ihrer verpfuschten Einmischungs- und Kolonialpolitik tragen? Die Schweiz kann sich daran beteiligen, afghanischen Kriegsvertriebenen in der Nähe ihrer Heimat Schutz zu bieten. Leider werden sich viele Politiker die Chance nicht entgehen lassen, ihr gutes Herz zu inszenieren mit Wohltaten, die andere bezahlen müssen.
R.K.