Weltwoche Kommentar 30/31/22

Kommentar

Vertrauen in die Schweiz

J

a, ich gebe zu: Die Schweizer Politik ist ausser Form. Der Bundesrat hat im Ukraine- Krieg den Kopf verloren und moralberauscht die Neutralität preisgegeben. Unser Land steht seit der Übernahme der EU-Sanktionen, unfassbar, im Krieg gegen die Russen, die der Schweiz noch nie etwas zuleide getan haben.

Die von Deutschland kopierte Energiewende ohne Plan entpuppt sich als Energie-Ende. Nicht einmal die bürgerlichen Parteien leisten mehr Widerstand gegen die Pläne eines Kartells von Schuldenstaaten, auch der Schweiz einen Einheitssatz bei den Unternehmenssteuern aufzuzwingen. Beschämend: Finanzminister Ueli Maurer (SVP) überlässt die Rolle des europäischen Steuer-Winkelrieds dem ungarischen Premier Viktor Orbán, der den Amerikanern trotzig die Stirn bietet, um die von aussen bedrohte Wettbewerbsfähigkeit seines Landes zu verteidigen.

An unseren Schulen haben linke Ideologen das Zepter übernommen. In den Städten breiten sich rot-grüne Fanatiker und Autohasser aus. Die gute Nachricht lautet, dass sich die Schweizer das Unheil selber eingebrockt haben. Sie können es auch wieder beheben.

Demnächst feiern wir den 1. August. Der Geburtstag der Schweiz ist ein Fest der Besinnlichkeit, nicht der Brandreden. Diesmal trüben dunkle Wolken die Stimmung: Krieg, Strommangel, Inflation, Wirtschaftskrise, rasende Zuwanderung. Nach vielen fetten Jahren folgen jetzt die mageren. Das aber ist kein Grund zum Verzweifeln. Im Gegenteil. Wenn es mit der Wirtschaft bachab geht, kehren die soliden, die bürgerlichen Werte zurück. Die Leute hören auf zu träumen und fangen wieder an zu rechnen. Auf Abgehobenheit folgt Bodenständigkeit, Notlandung auch hier.

Nach den Burgunderkriegen im 15. Jahrhundert wurden die Schweizer reich und übermütig. Es kam mit der Reformation die grosse produktive Ausnüchterung. Unser Bundesstaat und sein Wirtschaftswunder waren das Produkt des Untergangs der alten, morsch gewordenen Eidgenossenschaft. Krisen sind notwendig und immer heilsam. Das Problem der letzten Jahre war: Es gab zu viel Geld. Die Notenbanken ersäuften die Wirklichkeit in Ozeanen von künstlicher Liquidität. Die Tiefstzinsen waren das Heroin des Wohlfahrtsstaats. Jetzt kommt der kalte Entzug. Der Mensch ist grossartig in seinen Leistungen und in seinen Irrtümern. Schon die Bibel erzählt vom Tanz ums Goldene Kalb. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Auch Schweizer können sich verrennen. Ohne es zu merken. Die Korrektur kommt immer. Früher oder später.

Das Studium grosser Katastrophen fördert den Optimismus. Es grenzt an ein Wunder, was die Menschen alles angerichtet, überlebt und überstanden haben. Gibt es Gott? Es muss eine gütige Vorsehung geben. Andernfalls hätte sich die Menschheit längst selber ausgelöscht.

Die Grösse, der Trumpf der Schweiz, liegt in ihrer Beschränktheit. Not macht erfinderisch. Überfluss macht faul. Die Gesetze der sanft und süss sich einschleichenden Dekadenz, von Schriftstellern wie Thomas Mann meisterhaft beschrieben, können auch in Staaten wirken.

Trotzdem glaube ich an die Schweiz. Warum? Weil sie einzigartig ist. Ihr Staat? Ein faszinierendes Immunsystem gegen die unausrottbaren Dummheiten der Politik. Die Designer unserer Institutionen waren Realisten. Sie haben mit dem Menschen gerechnet, wie er ist. Nicht wie sie ihn gerne gehabt hätten. Die Vielfalt macht es aus. Die Schweiz ist das Gegenteil einer Monokultur. Gottfried Keller sah die «Mannigfaltigkeit in der Einheit» als unumstössliche Erfolgsformel unseres Landes. Mass und Recht, ein Hang zum Nützlichen, Soliden, nichts zu übertreiben, sind weitere Züge unseres Volkscharakters.

Nicht zu vergessen: der Humor. «Man rechnet nicht nur mit der Ausgabe von Geld, sondern auch mit der Ausgabe von Gefühlen», schrieb der grosse Volkskundler Richard Weiss. Pathos verfehle seine Wirkung in engen Verhältnissen, wo sich alle gut kennen und einzuschätzen wissen: «Hier ist eher der Witz am Platze.»

Gewiss. Vieles, was die Schweiz auszeichnet, ist heute unsichtbar, verschüttet, spiessbürgerlich entartet, zur Seelenlosigkeit entstellt, ins Hohle, ins Scherbelnde aufgedröhnt. Niemand hindert uns daran, ausser wir selbst, zur Schweiz, wie sie sein könnte, wie sie sein sollte, zurückzukehren.

Selbst die Neutralität, dieser urpraktische Grundsatz der aussenpolitischen Nichteinmischung, des friedlichen Draussenbleibens, der Kriegsabstinenz auf den Schlachtfeldern der andern, ging gelegentlich vergessen – um immer wieder als Rettungsanker entdeckt zu werden.

Das beste Beispiel ist hundert Jahre alt. In den 1920er Jahren führte der Tessiner Bundesrat und Aussenminister Giuseppe Motta die Schweiz gegen Warnungen der Urkantone, die Neutralität werde unter die Räder kommen, in den Völkerbund, Vorläufer der Uno. 1936 griff Italiens Diktator Mussolini Abessinien an. Der Völkerbund sprach wirtschaftliche Sanktionen aus. Die Schweiz hätte mitziehen sollen, doch Mussolini drohte mit dem Einmarsch ins Tessin, falls der Bundesrat die internationalen Anordnungen übernähme. Motta sah seinen Irrtum ein, beendete die Schweizer Mitgliedschaft im Völkerbund und führte unser Land zur immerwährenden, bewaffneten und umfassenden Neutralität zurück. Als dann kurz darauf Hitler in Polen einfiel, erwies sich Mottas Kehrtwende im Ernstfall als goldrichtig.

Nein, das ist kein Plädoyer gegen die Uno, aber eines für die Neutralität. Aussenminister Ignazio Cassis ist auch Tessiner. Auch er hat die Neutralität versenkt. Vielleicht findet er wie Motta die Kraft und die Grösse, seinen Fehler zu korrigieren. An Intelligenz und Integrität fehlt es ihm nicht.

Die Schweiz ist die älteste und erfolgreichste Selbsthilfeorganisation der Welt. Ihr politisches System ist offen und korrekturfähig wie kein anderes. Gerade die schlimmsten Zeiten haben das Beste aus uns Schweizern herausgeholt. Das ist tröstlich und macht Hoffnung.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen schönen, zuversichtlichen 1. August.

R.K.

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