Weltwoche Kommentar 30/31/21

Kommentar

Überleben in einer verrückten Welt

K

ürzlich habe ich eine Biografie des römischen Politikers, Redners und Schriftstellers Marcus Tullius Cicero gelesen. Die Lektüre hatte etwas Tröstliches. Viel schlimmer als heute war damals, im letzten Jahrhundert vor Christi, die Politik. Leute wie Cicero lebten in ständiger Gefahr. Die Verhältnisse waren unsicher. Mord galt als fast schon legitimes Mittel des Machterwerbs. Man wagt sich kaum vorzustellen, wie dreckig die weniger Mächtigen und Begüterten dran waren.

Rechtsstaat und Demokratie sind titanische Errungenschaften. Nichts ist weniger selbstverständlich. Die Menschen neigen zur Hab- und Machtgier. Die Starken würden die Schwachen umbringen oder ausbeuten, wenn man sie denn liesse. Ich staune jeden Tag, dass es so etwas wie die Schweiz überhaupt gibt. Ein Land, in dem sich die Leute selber regieren. Eigentlich passiert hier nichts. Das ist als Lob zu verstehen. Wir haben keine Terroranschläge, keine Massaker und Amokläufe mit Dutzenden von Toten. Irgendwie ist die Schweiz normaler als andere Länder.

Warum? Ich habe keine Ahnung. Vermutlich hat auch dies mit unserer Staatsform zu tun. Mit der Art, wie wir uns regieren. Möglicherweise spinnen wir hier ein bisschen weniger. Bleiben wir noch eine Sekunde beim Wunder Schweiz. Es ist keine Kunst, mit guten Zutaten ein hervorragendes Abendessen zu machen. Aber es erfordert höchste Kunst, aus so mangelhaftem Material wie dem Menschen einen Staat zu zimmern, der seinen Bewohnern Schutz, Sicherheit und vor allem die Freiheit bietet, etwas aus sich und ihrem Leben zu machen.

Die Schweiz gibt es nur einmal auf diesem Planeten. Es klingt verrückt, aber es ist wahr: Noch kein anderes Land ist auf die Idee gekommen, das Offensichtlichste zu tun: nämlich die Schweiz und ihre Staatsform zu kopieren, die doch so augenfällig den Beweis erbracht hat, dass Freiheit und Selbstregierung, Neutralität und Föderalismus nicht nur Frieden und Sicherheit, sondern auch Wohlstand bringen. Trotz ihrem Erfolg bleibt die Schweiz ein weltexklusives Wagnis der Freiheit. Nur die Schweizer trauen sich zu, ihr Schicksal wirklich selber in die Hand zu nehmen.

Was ist die Schweiz? Sie ist zum einen die Summe aller historischen Erfahrungen ihrer Bewohner, der Schweizer. Die Schweizer wiederum haben sich im Laufe ihrer Geschichte darauf geeinigt, das, was sie alle verbindet, in ihrer speziellen, einzigartigen Staatsform zu erblicken. Schweizer zu sein, heisst von alters her, sich mit der Verfassung, mit der Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes zu identifizieren. Die Schweiz ist ein permanenter Willensakt. Sie besteht nur so lange, als sie von ihren Bürgern gewollt wird. Gefährlich werden können der Schweiz deshalb nur die Schweizer.

Seit der Bundesrat mit Brüssel die Verhandlungen über ein institutionelles EURahmenabkommen abgebrochen hat, macht die EU auf kleinlichste Weise Druck. Es gibt Seitenhiebe. Die EU schikaniert unsere Exporteure. Sie droht den Universitäten. Nach dem schwankenden Juncker wird die EUKommission nun von einer wegen Unfähigkeit abgeschobenen ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin angeführt. Es ist traurig, wie tief das europäische Friedensprojekt gesunken ist. Die Schweiz kann, darf und wird bei dieser Diskriminierungsunion, die freie Demokratien würgt und piesackt, niemals mitmachen.

Natürlich sind die Schweizer etwas schizophren. Sie haben das merkwürdige Bedürfnis, von der ganzen Welt dauernd geliebt zu werden. Vielleicht rührt es daher, dass wir als geborene Dienstleister und sensible, einfühlsame, mehrsprachige Zuhörer, die mit allen ein Geschäft machen wollen, jede Art von Streit und Reibung in unseren Aussenverhältnissen tunlichst, geradezu panisch vermeiden möchten. Möglicherweise ist ein Land, das sich im Innern so viel Freiheit, Vielfalt und Anarchie gönnt, nach aussen hin besonders vorsichtig bis ängstlich. Was ja auch nicht das Allerunvernünftigste ist.

Möglicherweise ist es Gott. Vielleicht sind es auch nur unsere Institutionen. Allenfalls liegt es an beidem. Glückliche Fügungen walten über der Schweiz. Wie der Bundesrat in diesem Jahr im Grunde gegen seine Neigungen und Überzeugungen das Rahmenabkommen beerdigte, die Rechte von Volk und Ständen damit fürs Erste sicherte, war eine Sternstunde der Eidgenossenschaft. Gleich darauf lehnten die Stimmbürger und Kantone überraschend das CO2-Gesetz ab, obwohl oder vielleicht gerade weil ihnen seit Monaten, ja seit Jahren von oben die Ohren vollgedröhnt wurden, wie wichtig und alternativlos dieses so glorreiche, angebliche Gesetz zur Rettung des Planeten gewesen wäre.

Die Schweiz ist für viele eine Hoffnung. Sie sehen darin zu Recht das gegen alle Wahrscheinlichkeit verwirklichte Versprechen, dass es auf der Erde doch noch wenigstens ein Land gibt, in dem die Bürger im umfassenden Sinn des Wortes Staatsbürger einer Demokratie sind. Wie verwöhnte Erben drohen die Schweizer das Wunder, das sie in gewisser Weise selber sind, zu vergessen. Oder sie bekommen ein schlechtes Gewissen. Und haben dann das Gefühl, sie müssten die Schweiz neu erfinden, auf dass sie auch von denen geliebt werden, die der Schweiz nichts Gutes wollen.

Überleben in einer verrückten Welt: Die Schweiz schafft es seit 730 Jahren. Warum? Weil sie die Schweiz geblieben ist. Nichts braucht mehr Kraft und Weisheit, als zu bewahren, was sich bewährt hat. Sorgen wir dafür, dass wir unseren Kindern eine Schweiz hinterlassen, in der zu leben wir nach wie vor und oft zu unserer eigenen Verwunderung das Privileg haben.

R.K.

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